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Jagdopfer

Jagdopfer

Titel: Jagdopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
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Platzangst. Aber sie waren schon zu tief in den Felsen, um noch umdrehen zu können. Joe würde Lizzie dazu bringen müssen, fast einen halben Kilometer weit über glitschige Steine rückwärtszugehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dabei hinfallen, sich verletzen und auch noch den Ausgang blockieren würde, war zu groß. Er musste weiter vorwärtsgehen und hoffen, dass Lizzie ihm vertraute.
    An einer Stelle wurde die Schlucht so eng, dass das Pferd mit beiden Flanken die Felsen berührte. Und das Gestrüpp, das über ihnen in den Felsvorsprüngen wuchs, war so dicht, dass es das Licht fast ganz abschirmte. Da scheute Lizzie und ruckte zurück. Und Joe, der sie am halblangen Halfter führte, landete im Bach. In wilder Panik verdrehte Lizzie die Augen fast ganz nach innen - Joe sah statt der Pupillen ein blankweißes Schimmern. Er versuchte, sie aufzuhalten, als sie nach hinten ausbrach. Die Leine sirrte durch seine Hände und brachte seine Handschuhe zum Glühen. Schließlich rutschte Lizzie auf den Steinen aus und fiel mit einem dumpfen Klatschen spritzend auf die Hinterläufe. Sie atmete keuchend aus geblähten Nüstern, saß zitternd da und ließ zu, dass Joe sich ihr näherte. Er sprach leise mit ihr und sagte ihr etwa das, was er Sheridan in der Nacht erzählt hatte. Nach zehn Minuten, die sehr langsam vergangen waren, rappelte Lizzie sich mühsam auf. Sie atmete jetzt wieder gleichmäßig. Joe quetschte sich neben sie und fand fast keine Verletzungen. Nur an einer Flanke war ein kleiner Fetzen Haut aufgerissen und stand wie eine ausgestreckte Zunge vom Körper ab. Joe war jetzt völlig durchnässt
und fror. Auch Lizzie war nass, und die Schlucht roch stark nach Pferd.
    »Wir haben mehr als die Hälfte geschafft, Lizzie«, sagte Joe immer wieder beschwörend. »Entweder wir gehen weiter, oder wir müssen rückwärts zurück. Lass uns vorwärtsgehen. Jetzt ist es nicht mehr allzu weit. Es wird besser, das versprech ich dir. Alles ist gut. Alles ist wirklich ganz wunderbar. Nichts ist so schlimm, wie es aussieht.«
    Als die Felswände schließlich zurückwichen, wurde der Bach seicht, und bald konnte Joe wieder aufsteigen und am sandigen Ufer entlangreiten. Der Himmel war nicht mehr so grau wie am Vormittag, und die Sonne, die zaghaft durch den Wolkenschleier drang, wärmte und trocknete Pferd und Reiter.
    Endlich hatten sie das Ende der Schlucht erreicht. Das von Bergen umgebene Becken war noch üppiger und wilder, als Joe es sich ausgemalt hatte - ein herrlicher, außergewöhnlicher Ort. Rundum ragte nackter roter Fels auf, der Schutz gewährte, auch vor Wind. Hauchfeine Wasserfälle, die wie Spitzenbordüren an alten Kleidern aussahen, kamen von den Felsen herab. Joe stellte sich vor, wie kräftig die Wasserfälle im Frühling sein mochten - ihr Rauschen würde das ganze Becken erfüllen. Die alten Bäume waren riesig und voller Moos, ihr Laubwerk sehr dicht. Hohes Gras stand am Ufer, während im Bachbett überall klare, kalte Quellen entsprangen, die an der Wasseroberfläche ringförmige Wellen warfen.
    Es knackte in den Bäumen, und Joe zog mit einer Bewegung seine Schrotflinte aus dem Futteral. Doch bevor er durchgeladen hatte, sah er, dass das Geräusch von einem gewaltigen Wapitihirsch gekommen war, der ihn
bemerkt hatte und nun durch die Bäume floh. Zwischen den dicken Stämmen wirkte seine Silhouette wie die von hinten beleuchteten Blätter eines rotierenden Ventilators. Dann war er verschwunden. Joe legte die Schrotflinte auf den Sattelknopf und ließ den Apfelschimmel antraben.
    Er war sich bewusst, an einem einzigartigen Ort zu sein, und hatte den Eindruck, eine Zeitreise gemacht zu haben und gerade als einer der Ersten zu einem Naturwunder wie Yellowstone oder dem Grand Canyon vorzustoßen und dabei seinen Augen nicht wirklich trauen zu können. Heutzutage hatten nur noch wenige Menschen die Möglichkeit zu sehen, was er jetzt sah, oder zu erfahren, was er gerade erfuhr.
    Das dachte er jedenfalls.
     
    Der grasbewachsene Hang lag schon fast hinter ihm, als Joe plötzlich begriff, wo er war. Als er später darüber nachdachte, konnte er nicht genau sagen, warum er angehalten oder wie er es herausgefunden hatte. Es war ein Gefühl im Nacken gewesen, eine Art Geisterberührung. Aber als er das Pferd zügelte und sich im Sattel umsah, hatte er absolut keinen Zweifel daran, was vor ihm lag.
    Der Schauplatz eines Massakers.
    Es war ein baumloser Hang, der an einem dunklen Wäldchen begann und sanft bis

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