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Jagdopfer

Jagdopfer

Titel: Jagdopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
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zurück.
    »Ich kann nicht«, sagte Sheridan heiser.
    »Liegt das an dem neuen Haus?«, fragte er. »Daran, dass du in einem anderen Bett schläfst?«
    Sie antwortete nicht, aber Joe hatte das Gefühl, sie wolle etwas sagen. Ihm etwas erzählen. Er streichelte ihr Kopf und Schultern, um sie zu beruhigen. Irgendwas stimmte nicht. Er hörte sie schniefen und merkte, dass sie geweint hatte. Er fühlte ihre Wangen - sie waren ganz nass.
    »Mir kannst du’s doch erzählen«, sagte er sanft.
    Plötzlich fuhr sie hoch, warf ihm die Arme um den Hals und vergrub das Gesicht an seiner Brust. Er nahm an, sie habe vorhin etwas von seinem Gespräch mit Marybeth mitgehört. Vielleicht machte sie sich Sorgen über die Lage - so wie er. Er sagte ihr, alles werde gut. Und sie brauche doch etwas Schlaf. Er wartete darauf, dass sie ihm erzählte, was ihr zu schaffen machte. Sie hatte noch nie Hemmungen gehabt, über ihre Gefühle zu reden. Ganz im Gegenteil, dachte Joe.
    »Mir gefällt’s hier nicht«, sagte sie schließlich unter Tränen.
    Er verschwieg, dass er sich in diesem Haus auch nicht besonders wohlfühlte. Stattdessen drückte er sie wieder vorsichtig ins Kissen zurück.

    »Sonst nichts?«
    Sie zögerte sehr, sehr lange und legte die Hände vors Gesicht.
    »Sonst nichts«, sagte sie schüchtern.
    »Wir bleiben ja nicht für immer hier«, sagte Joe und war sich der Ironie dieses Satzes bewusst.
    Er streichelte ihre Schulter, bis Sheridan wieder eingeschlafen schien. Schließlich stand er auf und ging leise durchs Zimmer zum Flur.
    »Ich hab dich und Mom so gern«, sagte sie. »Ich hab unsere ganze Familie wahnsinnig gern.«
    Er drehte sich an der Tür um.
    »Deine Familie hat dich auch wahnsinnig gern, Sheridan. Und jetzt schlaf.«

25
    Joe trieb Lizzie so stark an, wie er nur wagte, und erreichte gegen Mittag das Jagdlager. Es war kalt. Graue Wolken zogen rasch über den Himmel, der heute besonders tief hing. Im Lager stieg er vom Pferd, streckte sich und nahm Lizzie den Sattel ab. Sie hatten sich beide in Schweiß gearbeitet. Der Rücken der Stute dampfte richtig, und Joe rieb sie in Handschuhen ab, während sie aus dem kalten Rinnsal trank, zu dem der Crazy Woman Creek wie üblich Anfang des Herbstes geschrumpft war. Er schüttete Lizzie Hafer hin und hängte die rauchfarbene, nasse Satteldecke über einen Ast. Er wollte abwarten, bis das Pferd wieder trocken und bei Kräften war, und dann weiterreiten.

    Auf dem Campinggelände an der Bighorn Road hatten ein paar früh aufgestandene Jäger vor Sonnenaufgang darauf gewartet, dass ihr Kaffeewasser endlich kochte. Seitdem hatte Joe niemanden mehr gesehen. Auf seinem schnellen Ritt in die Berge hatte er ein kleines Rudel Wapitis - Hirschkühe mit Kälbern - aufgeschreckt und beinahe einen Kojoten niedergetrampelt, der den Pfad gemächlich runterspurte, den er hinaufsetzte.
    Während Lizzie sich ausruhte, nahm Joe den Sattel und ging durchs Lager. Er setzte sich auf einen Stein, holte die Thermoskanne aus der Satteltasche und schenkte sich Kaffee ein. Zusätzlich zum neuen Revolver, den er im Gürtel an der Hüfte trug, hatte er seine mit grobem Schrot geladene Flinte mitgenommen. Er legte das Gewehrfutteral so auf den Sattelknopf, dass sie schnell schussbereit war.
    Obwohl er sich am gleichen Ort befand, den er mit Wacey und McLanahan vor kaum zwei Wochen betreten hatte, erschien ihm jetzt alles ganz anders. Die Zelte waren verschwunden, genau wie die Öfen und die Holzfußböden. Die Ermittler hatten den Boden des Lagers restlos festgetreten. Die Feuerstelle war zerstoßen, und die Querbalken in den Bäumen, die zum Aufhängen von Wapitis gedient hatten, waren entfernt. In ein, zwei Jahren wäre das Lager nicht mehr auszumachen. Bis dahin würden die starken Schneefälle des Winters, die Bodenerosion bei der Schneeschmelze und das Gras, das im Frühjahr hier wüchse, daraus nichts weiter als eine große, ebene Fläche am Bach werden lassen.
    Joe breitete eine topographische Karte auf den Knien aus und studierte sie, bis er den Punkt gefunden hatte, an dem er jetzt war. Einige Zentimeter bachaufwärts rückten
die schmalen Höhenlinien der Karte sehr nah zusammen - also musste sich dort eine enge und steile Schlucht befinden. Und auch der Bach wurde zu einer haarfeinen Linie. Der abwechselnd mit Punkten und Strichen markierte Pfad endete am Eingang der Schlucht.
    Die schien auf der Karte unglaublich lang und schmal. Er folgte ihr langsam mit dem Finger, wie sie sich mitten

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