Jagdopfer
…?«
Plötzlich beugte sich Mom ganz tief zu ihr runter.
»Mach kein Licht an, Süße. Und sei ganz leise.« Moms Stimme klang nachdrücklich - und ernst. So hatte Sheridan sie selten gehört, und es machte ihr Angst.
»Was ist denn los?« Sie hatte große Augen.
»Das weiß ich nicht genau. Aber da ist Licht im Hof.«
Sheridans Kehle war wie zugeschnürt. Sie schaute hinter ihrer Mutter hervor und konnte es jetzt auch sehen - gelbes Licht drang durchs Küchenfenster und wanderte über die Decke. Dann leuchtete es wieder durch den Hof.
Marybeth führte Sheridan zum Sofa und setzte sie hinein.
»Warte hier einen Moment. Ich schau mal, was das ist.«
Sheridan saß da und klammerte sich an ihren Rucksack. Sie beobachtete, wie Mom rüber in die Küche ging.
Jetzt sah sie ihren Umriss im schwachen Gegenlicht des Fensters.
»Mom …«
Marybeth drehte sich um. »Draußen ist ein Mann mit Taschenlampe. Er tritt den Holzstapel auseinander«, flüsterte sie angespannt. »Der will wohl unser Brennholz stehlen.«
Sheridan fuhr zusammen, als sie hörte, dass jemand - ein Mann! - sich am Holzstapel zu schaffen machte. Und dann blitzte in ihr ein panischer Schreck auf: der Pick-up vor dem Haus - Moms kurze Verwunderung - Dads Freund …
Wie hieß er bloß?
»Mom!«, schrie Sheridan, sprang vom Sofa und sauste in die Küche, als ihre Mutter gerade zum Schalter fasste und die Hofbeleuchtung anmachte.
»Lass das Holz in Ruhe!«, schrie Mom und schlug mit der Handfläche ans Fenster, als wäre der Mann ein streunender Hund, der im Müll stöbert.
Dann sprang die Scheibe, und es knallte durchdringend. Marybeth wurde rücklings auf den Boden geworfen, und ihr Kopf schlug hart auf dem Linoleum auf. Draußen schrie ein Mann.
Sheridan warf den Rucksack beiseite, fiel auf die Knie, rutschte neben ihre Mutter und legte die Hände an ihre Wangen.
»Oh, Mom …«
»Ich bin verletzt, Liebling«, sagte sie mit deutlicher Stimme. »Er hat mich angeschossen, und mir geht’s gar nicht gut. Keine Ahnung, wer das war.«
Sheridan heulte, vergrub den Kopf an der Brust ihrer Mutter und spürte deren Herz hämmern. Aber Sheridans
Hand, die auf Marybeths Taille lag, war warm und nass.
»O Gott«, sagte Mom mit erstickter Stimme. »Ich spür nichts. Alles ist taub.«
Das Ganze war so schnell passiert, dass Sheridan die Lage noch nicht begreifen konnte.
Plötzlich war Marybeth in Licht getaucht, und Sheridan sah ihr Gesicht und die Tränen in ihren Augen und das Blut, das ganze Blut, das sich immer weiter auf dem Fußboden ausbreitete. Mom sah von Sheridan zum Fenster, und Sheridan folgte ihrem Blick. »Bleibt, wo ihr seid, alle beide«, sagte der Mann fast ruhig. Dann drehte er die Taschenlampe weg. Sie hörten, wie er versuchte, durch die abgeschlossene Hintertür reinzukommen.
»Tür auf«, befahl er.
Marybeth fasste nach Sheridans Arm und drückte ihn.
»Hau ab, Sheridan.«
»Ich kann nicht.« Die Worte purzelten unter Tränen aus ihr heraus. »Das ist alles meine Schuld. Er hat gesagt, wenn ich jemandem was erzähle, tut er unserer Familie weh. Dir und Lucy und Dad. Und dem Baby.« Ihre Tränen tropften auf Marybeths Gesicht.
»Macht die verdammte Tür auf!« Diesem Schrei folgte ein lautes Krachen - der Mann warf sich gegen die Tür. Sie hatte schon einen großen Riss in der Mitte, und Holzsplitter flogen auf den Fußboden.
»Hau sofort ab!«, sagte Mom. »Lauf durch die Vordertür und renn immer weiter. Dann versteck dich und warte, bis Dad und Wacey zurückkommen.« Ihre Stimme war jetzt schwächer als vorhin. »Halt ja nicht an, Sheridan.«
Diese Worte ließen Sheridan erstarren. Der Wagen vor
dem Haus, der nur so aussah wie der von Dad; die bekannte Stimme des Mannes; was ihre Mutter gerade gesagt hatte - all das stand jetzt glasklar vor ihr, und mit einem Mal flutete die Erkenntnis auf.
»Aber Mom, das da draußen ist doch Wacey!«, schrie sie. »Wacey hat gesagt, er tut uns weh!«
Doch Marybeth hatte die Augen geschlossen, und ihre Hand war auf den Boden gefallen. Aber Sheridan spürte das Herz noch schlagen - ihre Mutter sah aus, als würde sie schlafen.
»Ich hab dich so gern, Mom«, sagte sie, sprang auf und rannte los. Sie war gerade vorne raus, als die Hintertür nachgab und Wacey Hedeman ins Haus stolperte.
29
Sheridan rannte wie noch nie und spürte unter den Sohlen ihrer Tennisschuhe weder Gras noch rissigen Beton. Sie hatte die Haustür hinter sich zugeworfen und war durchs Vordertor auf die Bighorn
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