Jagdzeit
Urlaub oder gar Erholung bezeichnen würden.«
Der Wolf knurrt ungeduldig, ich beeile mich fortzufahren.
»Au-außerdem brauche ich dringend etwas Inspiration, man bezahlt mich schließlich dafür, dass ich Geschichten schreibe. Aber stattdessen habe ich mich in diesem höllischen - Entschuldigung! - Wald verirrt. Und kaum ist mir ein kleines Erfolgserlebnis vergönnt, kaum habe ich den Weg gefunden, treffe ich auf einen Wolf und werde nun ERST RECHT STE-HE-HER-BEN!«
Die letzten drei Wörter brülle ich hemmungslos, mit geballten Fäusten, während mir bittere Tränen über die Wangen rollen.
Du bist tot! , stellt Motzmarie mit letzter Kraft fest, ehe sie in eine tiefe Ohnmacht sinkt.
»Den Weg hast du gefunden, doch an mir kommst du nicht vorbei.«
Der Wolf steht immer noch mit angespanntem Körper da, das Auge unverändert starr auf mich gerichtet, die Zähne gefletscht.
Aus der Nähe betrachtet wirkt so ein Wolfsmaul eher klein. Mörderisch scharf, voller Zähne, aber nicht groß genug, um mich, so wie ich bin, samt neuneinhalb Kilogramm Übergewicht, im Ganzen verschlingen zu können. Das ist teilweise beruhigend, da ich mir seit einer traumatischen frühkindlichen Fernseherfahrung kein schlimmeres Horrorszenario vorstellen kann, als mit dem Kopf aus einem Raubtiermaul zu hängen, während meine untere Körperhälfte gerade zu Mus zerkaut wird. Abgesehen davon bin ich ein relativ traumaloses Menschenkind. Hohe Türme, enge Räume, große Menschenmengen, gruselige Monster, Spinnen, Ratten, nichts davon bereitet mir die geringsten Schwierigkeiten. Doch der Gedanke, bei vollem Bewusstsein mitzuerleben, wie ich gefressen werde, führt dazu, dass alle vorhandenen Körperflüssigkeiten blitzartig von der oberen in die untere Etage schießen. Nur gut, dass ich gerade auf dem Klo war …
»Ja«, schluchze ich, »das scheint mir auch so. Doch bitte, bitte, hochverehrter Wolf«, hauche ich mit letzter Kraft, während ich auf die Knie sinke, »wären Sie so freundlich, mir zuerst das-dasdas G-Genick durchzubeißen, damit ich den Rest Ihrer Mahlzeit nicht mehr mitbekomme? Das wäre wirklich äußerst …«
»Ob ich dich töte, Menschenfrau, hängt ganz von dir ab«, zischt er wütend und bleckt die Zähne. Ich rapple mich auf.
»S-s-s-so?«
Meine Stimme zittert immer noch heftig. Vorsichtig, ohne das Wildtier aus den Augen zu lassen, weiche ich Schritt für Schritt zurück.
»HALT!«
Das tiefe bellende Geräusch lässt mich mitten in der Bewegung erstarren. Ich bin so was von tot!
Der Wolf macht drei elegante Raubtierschritte auf mich zu und setzt sich dann mir gegenüber auf die Hinterpfoten. Er reicht mir, von Kralle zu Ohrenspitze, immer noch bis etwa an die Kehle. Kein schöner Gedanke. Als er wieder spricht, klingt seine Stimme weniger rau, dafür weich und einschmeichelnd, als hätte er Kreide gefressen. Ich erinnere mich dunkel, dass das eine Taktik ist, die bei den armen Ziegenbabys funktioniert hat. Liebe Kinder, lasst mich ein … Geißleinblut überall. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter.
»Dieser Wald ist mein Revier. Ich bin der Wanderer, den man Graubart nennt. Du magst mich auch Gagnrad rufen, wenn du mutiger bist. An Gabelungen trifft man mich häufig. Hüter der Wege bin ich. Du magst sie benutzen, es steht dir frei, aber nur unter einer Bedingung.«
Ein Haken ist immer dabei, wenn böse Wölfe zuckersüße Worte sprechen.
»Und die wäre?«
Er legt den Kopf schief und fixiert mich.
»Du musst mir drei Fragen beantworten.«
»Darauf falle ich bestimmt nicht rein. Ich habe Grimms Märchen von vorn bis hinten studiert«, platze ich heraus.
Ich schlage die Hand vor den Mund. Warum, lieber Gott, wurde ich bei meiner Erschaffung nicht mit den wunderbaren Gaben Takt und Diplomatie bedacht? Erst denken, dann reden? Wozu denn, es ist doch viel spannender, von einem Wolf gefressen zu werden!
Wie auf Kommando springt der Wolf laut knurrend auf und treibt mich vor sich her. Ich kann sein staubiges Fell riechen, den sauren Atem aus seinem Maul, das viele alte Blut (Geißleinblut!), das zwischen seinen Zähnen klebt.
»Wenn das so ist, was willst du dann auf meinem Weg?«
Ich stolpere rückwärts, während mein Puls rast. Mir ist klar, dass ich auch spurtend keine Chance gegen das Tier habe. Vier so kräftige Tierbeine gegen meine Großstadttreter, das kann nicht gut enden. Davonlaufen fällt folglich als Alternative aus. Mir bleibt nur die Flucht nach vorn.
»G-g-gut, Gagnrad, ich werde
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