Jagdzeit
welchem Geruchsfaden ich folgen soll, um jemals wieder zur Erdoberfläche zurückzufinden. Doch diese Option scheint derzeit zu weit weg zu sein, als handelte es sich nicht um meinen Rückweg, sondern um eine Reise in eine ungewisse Zukunft. Zuerst muss ich an mein Ziel kommen, wie es dann weitergeht, damit werde ich mich auseinandersetzen, wenn es so weit ist.
Fröstelnd stolpere ich beinahe, als ich den Fuß der Treppe erreiche. Hier hat es bestimmt weniger als zehn Grad. Die Luft, die ich ausatme, bildet ein feines Wölkchen vor meinem Mund, ein Wölkchen, das ich sehen kann! Von irgendwo dringt Licht herein.
Ich haste, so schnell mich meine Beine tragen, bergab den schmalen Gang entlang in die Richtung, aus der das Licht kommt und in der ich den Ursprung des Duftes vermute, von dem ich mich habe führen lassen. Bald ist es hell genug, um zu erkennen, dass auch hier die Wände über und über mit Runen beschriftet sind. Nach vielleicht zweihundert Metern endet der Tunnel abrupt, und ich stehe vor einem zweiflügeligen Eisentor mit der Gravur: URDS BRUNNEN.
Ein Brunnen? Ich schaudere. Ich mag Brunnen nicht. In meinen schlimmsten Albträumen hatte ich mit Brunnen zu tun, und ich würde weiteren brunnentechnischen Kontakt gerne vermeiden. Tiefe, dunkle Löcher in der Erde, die das Tageslicht verschlucken und weiß Gott welche Geheimnisse hüten. Wie ich schon sagte, Angst macht mir nur das, was ich nicht sehen kann. Brunnenwelten fallen definitiv in diese Kategorie.
Warum hat mir niemand mitgeteilt, dass die Quelle ein Brunnen ist?
Hast du je danach gefragt?
Verfluchte Vernunft! Ich zögere und streiche sanft mit den Fingern über die Ornamente, die den rechten und linken Torflügel zieren. Symbole? Ich erkenne einen Kreis aus Runen, in dessen Mitte sich zwei Stäbe kreuzen. Nein, nicht Stäbe. Auch keine Fischgräten. Ich ziehe die Hand zurück, als hätte ich mich an dem kühlen Metall verbrannt.
Es sind Federn!
Wenn ich diese letzte Tür öffne, was für Schrecken oder Wunder erwarten mich dahinter? Will ich das wissen? Kann ich noch mehr verkraften? Mir fällt die letzte SMS ein, die auf meinem Handy eingegangen ist. Auch an den weiten Weg, den ich schon zurückgelegt habe, muss ich denken. Und natürlich an die Zähne in meinem Arm, die Zähne des …
Mit allerletzter Kraft stoße ich das schwere Tor auf und trete hindurch. Ich bemerke kaum, dass es hinter mir mit einem Knall zuschlägt, so sehr nimmt mich der Anblick, der sich mir bietet, gefangen. Ein runder, gemauerter Raum von kathedralenartigen Ausmaßen, einfach atemberaubend! Die Decke wird durch ein feines Netz hauchdünner Wurzelstränge gebildet, die rundum ins Gemäuer übergehen und mit ihm verwachsen, bis Stein und Holz, Schöpfung und Natur, nicht mehr zu unterscheiden sind. Offensichtlich handelt es sich um die Wurzelenden der direkt darüber befindlichen Esche. Hierher hat der Herzstrang geführt, das ist es also, woraus Frau Wurds ältester Baum entstanden ist, ein gigantischer, unterirdischer …
NEIN!!! Nein, das kann nicht, darf nicht …
Der Schrei bleibt mir im Hals stecken, wo er sich in ein
hauchdünnes Piepsen verwandelt, ein Maus-in-der-Falle-Laut. Dadurch, dass meine Aufmerksamkeit bisher auf das kunstvolle Wurzelgebilde gerichtet war, ist mir entgangen, dass es nicht nur ein Oben, sondern auch ein Unten gibt. Ein tiefes, bodenloses Unten! Keuchend drücke ich den Rücken an das Tor, durch das ich getreten bin. Entsetzt begreife ich: Ich bin nicht auf dem Weg zu Urds Brunnen , ich befinde mich bereits direkt in diesem. Denn der Raum ist gar kein Raum, sondern ein gigantischer Schacht, der sich unter den Wurzeln geradeaus in die Tiefe bohrt. Ich stehe auf einer schmalen Plattform von vielleicht neun Quadratmetern, blicke nach unten und muss mich beinahe übergeben. Erst die Dunkelheit, dann die Nacktheit und nun das. Als hätte jemand eigens für mich eine Geisterbahn des Horrors errichtet, nur dass statt der Zombies mir andere Monster auf den Fersen sind. Ich konzentriere mich auf das Kunststück, nichts als meine Schuhspitzen wahrzunehmen, während ein saurer Geschmack sich auf meiner Zunge ausbreitet. Niemals werde ich den Grund dieses Brunnens erreichen. Niemals.
Du musst es wollen!
Wie bitte?
Denkst du, das Ziel deiner Wünsche erreichst du, wenn du Zweifel hast?
Ich habe keine Zweifel, sondern ein Problem von mehreren Hundert Höhenmetern, und ich glaube kaum, dass mir in den nächsten Minuten Flügel wachsen. Ohne
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