Jagdzeit
daran, dass meine nach vorne gestreckten Arme auf eine Barriere stoßen, der man nach rechts oder links ausweichen kann. Ob sich die Wege wieder treffen? Ich hoffe es stark und entscheide mich spontan für links.
Mein Nervenkostüm hat mittlerweile nicht nur ein paar Risse, sondern bereits riesige Löcher. Motzmarie ist immer noch stumm wie eine Forelle, was mich langsam, aber sicher in den Wahnsinn treibt. Bei all ihrem Sarkasmus hatte ihre bloße Anwesenheit in meinem Kopf doch stets etwas Tröstliches. Dafür kann ich hinter beziehungsweise über mir immer noch das Keuchen des blutrünstigen Wolfes hören, der mir auf den Fersen ist, um mich eher früher als später in die ewigen Jagdgründe zu befördern. Wäre er nicht verletzt, hätte er mich wohl schon längst erreicht. Doch an dem immer lauter werdenden Hecheln, das sich unter sein drohendes Knurren und Bellen mischt, merke ich, dass er mindestens genauso erschöpft ist wie ich. Was ihn nicht davon abhält, immer wieder schauerlich zu
heulen, ein Laut, der erschreckend von den Wänden widerhallt und mich jedes Mal aus dem Gleichgewicht bringt.
Die Dunkelheit, das weiß ich, ist für ihn ein Vorteil, da er sich auf seine anderen Sinne verlassen kann und nicht wie ich blindes Huhn einen Schritt nach dem anderen entlang den Wurzeln machen muss. Immer wieder rutsche ich aus und stolpere über meine eigenen Beine oder über unsichtbare Löcher in den Stufen. Die Geräusche des Verfolgers werden lauter, während ich verzweifelt die Augen aufreiße, um vielleicht doch irgendetwas erkennen zu können.
Dann teilt sich der Wurzelstrang wieder, diesmal zweigen vier verschiedene Wege ab, und ich begreife, dass ich mich mitten in einem verdammten Labyrinth befinde. Wie, um Himmels und Hölle willen, soll ich jemals die Quelle finden? Wenn diese Wurzeln sich artgerecht verhalten, werden die Verzweigungen schier endlos sein, und ich könnte mich, mit einem hungrigen Wolf im Nacken, kilometerweit vom Ziel meiner Wünsche entfernen, statt mich ihm zu nähern. Ich könnte tief unter der Erdoberfläche komplett verloren gehen, lebendig begraben unter Tonnen von Erdmassen! Bei dieser Vorstellung bekomme ich Beklemmungen. Folge den Wurzeln. Erstmals verfluche ich Mimmer stumm für diese äußerst unpräzise Anleitung.
Langsam, langsam, junge Frau. Erst denken, dann schimpfen. War da nicht noch etwas, was du der Flaschenpost entnehmen konntest? Streng deine Gehirnzellen an!
Die neue Stimme scheint in jedem Fall eng mit Motzmarie verwandt zu sein. Ich taufe sie Klugscheißstilzchen.
Dennoch erinnere ich mich sehr wohl an Mimmers Worte. Halte dich an deine Instinkte! Das ist leichter gesagt als getan.
Momentan bewege ich mich blind in einem gigantischen unterirdischen Irrgarten. Panik sitzt ganz, ganz dicht unter meiner Haut. Nicht jene Panik, die von leichter Schreckhaftigkeit kommt. Auch nicht diejenige, die einen hin und wieder angesichts unlösbarer Aufgaben überfällt. O nein. Was da kurz vor der Explosion steht, ist die nackte, pure, hässliche Sorte von Panik, die mir die Luftröhre zuschnürt und wie ein Tonnengewicht zwischen meinen Brüsten liegt. Die Supergaupanik schlechthin.
Nicht heulen!, ermahne ich mich selbst, bloß nicht heulen. Ich presse mir die Handballen auf die Lider und atme mehrmals tief ein und aus.
Augenblicklich wird mir die Bedeutung von Mimmers Worten bewusst. In absoluter Dunkelheit gibt es nur eine Möglichkeit der Orientierung: Ich muss mich bewegen wie ein Tier, muss meinen Ohren und meiner Nase folgen. Sagte ER dort oben nicht auch, dass man die Perspektive wechseln muss, um sein Ziel zu erreichen?
»Nun, Herr Wolf«, flüstere ich, »deine Worte sind mir Befehl.«
Ich konzentriere mich auf die verschiedenen Gänge, schnüffle in jede Richtung, lausche anschließend mit angehaltenem Atem, und als ich schon aufgeben will, rieche ich einen Duft in dem äußersten rechten Gang. Süß und würzig, das Aroma des Waldes. Nicht mehr als ein Hauch, doch deutlich identifizierbar. Ich beeile mich, dieser Spur zu folgen, weil mein linkes Ohr akuten Wolfsalarm meldet. Er hat die erste Gabelung erreicht und meine Fährte gewittert. Ebenbürtige Gegner, denke ich, während ich weitereile. Bis auf die Länge der Zähne.
Es wird kühler, je tiefer ich hinabsteige, und ich bin froh, dass ich meine Kleidung wieder anhabe. Ich ziehe meine Jacke fest um mich und stecke die Hände unter die Achseln, um sie zu wärmen. Beklommen denke ich darüber nach,
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