Jagdzeit
Art von schlauer Berechnung gemischt mit Leidenschaft (Wahnsinn?), als er mir nach einer kurzen, effektvollen Pause antwortete.
»Ja, ja, die Hütte. Im tiefsten, dunkelsten Teil des Waldes liegt sie, an der Stelle, wo alle Wege beginnen und enden. Jeder im Ort kennt sie, obwohl sie schwer zu finden ist. Früher«, Sepps Blick schweifte ins Leere, »gingen die Menschen oft in den Wald. Heute nicht mehr. Nicht mehr.«
»Lebt jemand in der Hütte?«
»Eine alte Frau, so sagt man, die in kupfernen Töpfen und Schüsseln duftende Säfte braut. Wer sie trinkt, wird Wahrheit finden. Es soll allerdings viel kosten, die Getränke zu probieren. Den Verstand, womöglich! Aber sie ist nicht immer dort, die Alte, sie ist viel im Wald unterwegs, in der einen oder anderen Gestalt. Ich habe sie selbst noch nie getroffen. Mein Großvater hat mir von ihr erzählt.«
Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Typisch Bergbewohner, ohne ihre Mythen und Sagen konnten sie nicht existieren. Dennoch, etwas an der Geschichte faszinierte mich gegen meinen
Willen. Oder war es die fast heilige Andacht, mit der der Wirt sie erzählte …
»Na gut. Also es gibt eine Hütte mit einer alten Oma, die erstklassig kochen kann. Das ist ja nicht so außergewöhnlich. Vielleicht sollte ich sie mal besuchen. Die kann mir bestimmt ein paar nette Dorfanekdoten erzählen, und gegen gute Küche habe ich auch nichts einzuwenden. Gibt es eine Wegbeschreibung, wie man dort hinkommt?«
Sepp, der bis dahin durch mich hindurchgesehen hatte, richtete seine sonderbaren glasigen Augen auf mich und grinste, was fast wie ein Zähnefletschen wirkte.
»Ich bin mir sicher, Sie finden den Weg. Solange Sie sich vor dem Wolf in Acht nehmen. Beeilen Sie sich, bevor es im Wald dunkel wird. Und kommen Sie nicht vom Pfad ab, sonst stolpern Sie womöglich und brechen sich ein Bein. Alle Wege im Wald führen zur Hütte. Alle. Und dann, in der Stube, vergessen Sie nicht, die alte Dame freundlich zu grüßen, aber schauen Sie sich nicht zu gründlich um, das hat sie nicht so gerne. Und jetzt essen Sie den Kuchen, solange er noch warm ist.«
Er stand auf, nickte mir zu, das übliche Lächeln wieder mitten im Gesicht, und verschwand hinter der Theke.
Ich atmete tief durch und nahm noch einen Schluck Tee. So ein Sonderling. Einen absurden Moment lang hatte er mir richtig Angst gemacht. Sogar größere Angst als der Schnüffler mit seinen gehetzten Augen und seiner Art, geheimnisvoll aufzutauchen und zu verschwinden. Was, zum Teufel, hatte Alt seit der Versammlung gemacht? Wo war er? Hatte er womöglich den Fall Mimmer gelöst? Ich musste herausfinden, was er …
»Schmeckt’s?«
Thereses Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Tatsächlich
hatte ich mit fast frenetischem, heißhungrigem Eifer den halben Kuchen quasi vernichtet. Ich blickte auf den Teller, wo mir der kümmerliche Rest wie ein bitterer Vorwurf entgegenduftete. Um Himmels willen, wohin ist das alles verschwunden? Es gab nur eine Erklärung: PMS = Problemzonen maximierender Schwachsinn!
»Ja, danke, sehr gut. Aber ich glaube, jetzt bin ich satt.«
Therese sah prüfend erst das verbliebene Stück Kuchen, dann mich an, schien im Kopf irgendetwas zu überschlagen und meinte schließlich zuvorkommend: »Sie können es gerne für später einpacken.«
Das erschien mir eine ausgezeichnete Idee, daher wickelte ich den Kuchen in mehrere Servietten und ließ das Lunchpaket in meiner minimalistischen, aber dafür dekorativen Handtasche verschwinden.
»Noch eine Tasse Tee?«
»Danke, nein, genug Zucker für heute.«
Therese lächelte schmallippig und entfernte sich, wofür ich dankbar war. Ihre Augen schienen alles zu registrieren, alles in einem Erinnerungsordner abzulegen, auf einer Platz sparenden, aber hocheffizienten Festplatte, und das machte mich ziemlich nervös. Zeit, das weitere Vorgehen zu überlegen. Ich musste an die wahre Geschichte von W. rankommen! Musste aus dieser den Plot entwerfen. Die Deadline drängte!
Ich schob den leeren Teller zur Seite und wollte gerade aufstehen, als mir etwas einfiel. Was hatte Sepp gesagt? Die alte Frau braut Tränke in ihrer Hütte. Wer sie trinkt, wird Wahrheit finden. Die Hütte! Die Hütte im Wald!
Das war der Moment, wo wieder einmal, wie so oft in dieser äußerst seltsamen Geschichte, mehrere Dinge gleichzeitig passierten.
Die Wirtshaustür wurde aufgerissen, Adrian Alt stürmte in den Raum, packte mich, zerrte mich vom Tisch weg, sah den leeren Teller und schrie
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