Jagdzeit
laut auf, wobei Letzteres auch damit zu tun haben konnte, dass ich ihm meinen Ellbogen schwungvoll in den Magen gerammt hatte, woraufhin er hinter mir zusammenbrach und mir dafür die Freiheit wiedergab. Er sah insgesamt äußerst mitgenommen aus: Seine Kleidung war verdreckt und teilweise zerrissen, an der einen Schulter kam tatsächlich die nackte, blutige Haut zum Vorschein, seine Hände waren aufgeschürft, und er klammerte sich verbissen an eine alte Dokumentenmappe.
Sepp und Therese kamen aus der Küche gelaufen, erkannten meine Situation und ergriffen sofort die Initiative. Sepp zog ein Gewehr unter der Theke hervor und richtete es auf den Schnüffler, der panisch zwischen meinem vermutlich zornroten Gesicht und der Gewehrmündung hin und her blickte, um mich schließlich wütend anzufahren.
»Was haben Sie gegessen? Was? Was? Habe ich Ihnen nicht gesagt … Herrgott, wie kann man nur so verfressen sein? Sie …«
Das, genau DAS war der Moment des Tobsuchtsanfalls. Ich heulte auf, griff ohne zu zögern nach dem leeren Kuchenteller und schleuderte ihn nach dem immer noch am Boden liegenden Schnüffler. Ich verfehlte seinen Kopf um Millimeter, der Teller schlug am Boden auf, zerbrach, eine Porzellanscherbe traf Alt an der Wange, eine andere, kleinere, schien er ins Auge bekommen zu haben. Er brüllte etwas, presste seine rechte Hand auf das Auge, jedoch ohne die Mappe loszulassen. Mit der Linken wehrte er Sepps Gewehr ab, während Therese unentwegt auf ihren Mann einredete. Ich bekam das alles nur noch peripher mit, da ich panisch nach meiner Tasche gegriffen
hatte und zur Tür geflüchtet war. Bloß raus aus dem Irrsinn, fort!
Aber wohin?
Mir fiel nur ein Platz ein, wo ich möglicherweise Antworten bekommen würde und zugleich einigermaßen geschützt vor Schnüfflern sowie Einheimischen war: die Hütte im Wald. Die musste ich finden, inklusive netter alter Oma, daher lief ich schnurstracks in die Dunkelheit, Richtung Waldrand. Ich blieb nur ein einziges Mal stehen, als mir nämlich vor Schreck das Herz fast in die Hose rutschte. Hinter mir, aus der Gifthütte, hörte ich deutlich … O Gott, o lieber nicht existierender Dorfgott, o Allah, Manitu oder wie du sonst noch heißen magst, aus dem Wirtshaus ertönte … o bitte nicht!
Ein Schuss.
9 Weißt du Opfer zu bieten?
Mein Aufprall am Grund des Brunnens ist weicher als befürchtet, dank eines radikalen Bremsmanövers auf den letzten zehn Metern. Aber der Knall, mit dem die Plattform auf dem Boden aufschlägt, ist ohrenbetäubend und hallt von den Wänden des gigantischen Schachtes über mir wider.
Mein erster erschreckend rationaler Gedanke ist: Die Quelle ist versiegt! Ich bin davon ausgegangen, dass sich irgendwo in der Tiefe des Brunnens Flüssigkeit befinden muss. Immerhin ist dies ja der Sinn einer Quelle, nicht wahr?
Es gibt verschiedene Arten, Flüssigkeit aufzubewahren, vergiss das nicht!
Schon, aber … Da entdecke ich die Gegenstände, die mir im Zwielicht entgangen sind: Holzfässer. Sie stehen in Stapeln übereinander und bilden an der einen Seite der Schachtwand einen etwa zwanzig Meter hohen Durchgang, der in einen breiten Gang führt. Der Gang ist ein Steingewölbe, an dessen Wänden Abertausende von Fässern säuberlich übereinander und nebeneinander gelagert sind. Ihr Holz riecht alt, ähnlich wie die Wände des Baumstammzimmers hinter der Tür, doch ein anderer Geruch ist eindeutig dominant. Es ist der gleiche Geruch, der das Hexenhaus erfüllt hat, und eben jener Geruch, der mich so untrüglich durchs dunkle Wurzellabyrinth geführt hat. Ich erkenne das süße, würzige Aroma. Der vergorene Waldhonig
und die Gewürze erzeugen ein unverkennbares Bouquet, und plötzlich weiß ich ganz genau, wo ich bin, schließlich stamme ich aus einer waschechten Winzergegend.
Am Grund von Urds Brunnen befindet sich ein Weinkeller!
Staunend wandere ich den Gang entlang, Raum folgt auf Raum, diese unterirdischen Vorräte müssen schier unerschöpflich sein. Bestimmt bräuchte man Stunden, um die Fässer zu zählen, wenn man einen so gearteten mathematischen Ehrgeiz besäße.
Ich merke, dass es stetig leicht bergab geht, meine Beine lassen sich nur noch unter Protest zum Weitergehen bewegen, und meine Fußsohlen brennen wie das ewige Höllenfeuer. Außerdem ist der Weg schneckenförmig angelegt, jede Abzweigung führt immer wieder unweigerlich nach links, und die Abstände zwischen den Ecken werden kürzer und kürzer. Mein Herz pocht vor
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