Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
aus schwarzem Leder, wie sonst nur die Neger, einige Neger, der Neger mit dem wolligen Kinnbart und den aus seiner verschlafnen Miene aufblitzenden Blicken, den wir am Mittwochabend in der Westseiten-Ubahn gesehen haben, allerdings wohliger in seinem engen glänzenden Lederzeug und eine Hand in der Tasche an etwas Eckigem verborgen.
Wer erzählt hier eigentlich, Gesine.
Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.
Dann wurde der Schriftsteller im Strom der Welt gebildet. Hausdiener des Hotels stellten im Mittelgang des Ballsaals zwei Stative mit Mikrofonen auf, und hinter jedem warteten zehn und elf Menschen auf ihr Wort zu den Darlegungen, Überlegungen, Offenlegungen Johnsons. Und sie sagten: Meine Mutter. Theresienstadt. Meine ganze Familie. Treblinka. Meine Kinder. Birkenau. Mein Leben. Auschwitz. Meine Schwester. Bergen-Belsen. Mit siebenundneunzig Jahren. Mauthausen. Im Alter von zwei, vier und fünf Jahren. Maidanek.
– Er hat es nicht getan: sagte der Rabbi.
– Er gehört zu ihnen: sagten sie.
– Ihr sollt ihm nicht vergeben: sagte der Rabbi.
– Wir werden ihm nicht vergeben: sagten sie.
– Ihr sollt mit ihm sprechen: sagte der Rabbi.
– Sprich du mit uns, Rabbi: sagten sie.
– Er ist ein Gast: sagte der Rabbi.
– Draußen ist er ein Feind: sagten sie.
– Seid doch vernünftig, Kinder: sagte der Rabbi.
– Er tut nichts gegen die neuen Nazis: sagten sie.
– Wie soll er das tun in seinem Beruf: sagte der Rabbi.
– Er soll es nicht tun als Beruf, sondern als Mensch: sagten sie.
– Ihr habt ihn gehört: sagte der Rabbi.
– Er soll sich trotzdem schämen: sagten sie.
– Haben Sie noch etwas zu bemerken, Mr. Johnson: sagte der Rabbi.
– Es ist alles gesagt: sagte Johnson.
– Wir danken Ihnen, Mr. Johnson: sagte der Rabbi.
Dann war Schriftsteller Johnson noch einmal zu sehen im Foyer des Roosevelt, im Gedränge im Gespräch mit Rabbi Joachim Prinz (früher Berlin-Dahlem) und dem Herrn, der Mr. Johnson bei den Juden eingeführt hatte. Sie hätten gern noch eins getrunken, eins gegessen mit ihrem Gast. Ihr Gast zog seinen Mantel so hastig über, als dächten sie ihm den wegzunehmen. Wir standen nur wenige Schritte von ihm entfernt und erkannten an seiner Kopfhaltung, daß er gerade eine waschechte, lichtechte, luftdichte Lüge von sich gab. Dann verschwand er um die Ecke der Madison Avenue auf die 45. Straße, in großer Eile unterwegs zum Grand Central, zur Ubahn, zu seiner Lüge. Der versucht nicht noch einmal, als Einzelner Juden seine Einzelheiten zu erklären. Der hält sich in Hinkunft versteckt, solange eine Regierung in seinem Namen spricht. Über den neuen westdeutschen Regierungssprecher sagt der keinen Ton mehr. Der macht das nicht noch mal.
Ja, wenn ich dich gleich um Rat gefragt hätte, Mrs. Cresspahl.
Damals sprachen wir noch nicht miteinander, Mr. Johnson.
Der Kanzler Westdeutschlands, Mitglied der Nazipartei, Handlanger der Judenmörder, hat sich eines Freundes aus dem gleichen Amt erinnert. Zwar ist der erst 1938 zur Partei der Nazis gestoßen. Immerhin, auch er ist nie ausgetreten. Der ist gerade recht als Sprecher der westdeutschen Regierung. Die westdeutsche Regierung wünscht Freundschaft mit dem amerikanischen Volk, mit 5 936 000 Juden in Nordamerika, allein zwei Millionen in der Stadt, in der wir leben.
4. November, 1967 Sonnabend, Tag der South Ferry
Der Kriegsminister hat sich sagen lassen, daß die Sowjets demnächst eine Bombe um die Erde kreisen lassen können, beliebig abrufbar zu jedem Punkt unterhalb des Umlaufs, vorhersehbar erst drei Minuten vor der Explosion, tragfähig bis zum Äquivalent von 3 Millionen Tonnen Trinitrotoluol, ein prächtiger Städteknacker.
– Als ob eine Faust in den Hafen schlüge: sagt Marie. Sie blickt auf eine abschätzende Weise in den flackrigen Regenschauer über dem Wasser, als berechnete sie die Höhe der Fontäne, auf der die Fähre mit ihr und die Dampfer am verschmierten Horizont und die Schlepper und die Trajekte mit den Güterwagen und die flotten Windhunde der Küstenwache in den Himmel sausen werden.
– Und noch Staten Island, und Long Island, und Manhattan, und große Stücke von New Jersey, New York und Connecticut.
– Wünschst du, daß ich Angst habe?
– Nein.
– Dann sag mir nicht zu früh Bescheid: sagt sie. Sie hängt mit ihren Ellenbogen auf der Reling des äußeren Umgangs und hält dem Wind ihr Gesicht zum Waschen hin. Ihr Gesicht ist von der Empfindung des Wetters zugewischt,
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