Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
voller Juden lachte, nicht bösartig, fast entzückt. Die Welle des Vergnügens ließ Inseln aus, einzelne Zuhörer, die still und aufmerksam den Deutschen betrachteten, der auf dem Podium seine Tabakspfeife in der Handgrube polierte. Dann schwappte wieder Gelächter durch die weite Halle, wenn die Mikrofonanlage ausfiel und der Rabbi Joachim Prinz (früher Berlin-Dahlem) komisch die Arme hob und ausrief mit verzweifelter Donnerstimme: Sie sind überall (die Deutschen. Die Nazis)! Sie sind auch hier!
Der Deutsche, der tatsächlich hier war, gab sich, als erfasse er nicht nur Amerikanisch, wirklich auch die Stimmung, die im Publikum für ihn vorbereitet wurde. Er sah mit Neugier empor an dem fröhlichen, sorgenlosen Sprecher, der ihn bei den Juden vorstellte. Vom Saal aus schien seine schräg aufwärts gekehrte Miene streng, humorlos. Dabei waren die Witze zum Lachen gewesen. Ans Rednerpult gebeten, nahm Schriftsteller Johnson nicht etwa Abschied von der Veranstaltung (mit Dank für die Einführung), sondern begann im Ernst seine Rede, zwar nicht im Ausgang des Mittelalters, doch immerhin mit dem Jahr 1945 und der folgenden Entwicklung zweier deutscher Staaten. Nun mißlang ihm der neuenglische Tonfall, den er sich für diese Gelegenheit mochte vorgenommen haben, und rutschte zurück in die falschen Vokale, die falsche Betonung, den nicht einmal britischen Akzent, den seine Schule hatte ihm durchgehen lassen.
Gesine Cresspahl geniert sich für einen Deutschen.
Ein bißchen nehm ich zurück, deiner Eitelkeit zuliebe, du Schriftsteller.
Einem meiner Lehrer zuliebe. O. K.?
Na gut.
– Meine Damen und Herren: sagte Johnson. Die vordere Hälfte des Saals überschüttete ihn mit noch nicht vereinten Rufen: Lauter! - Danke dem J. A. C. für die Einladung, eine Darstellung: sagte Johnson. Jetzt war die hintere Hälfte des Saals auf den Rhythmus des vorderen geeicht, und klappte nur noch wenig nach in dem Schrei: Lauter! ! - Let me begin with, and even mention, the East German Republic, also known as D. D. R.: sagte Johnson, und diesmal fiel er ein in die nächste Kreischwoge aus dem Saal, nutzte den Vorteil der vorzüglich arbeitenden Übertragung, schickte vollen Stimmdruck aus allen Verstärkern, unerträglich laut: SIE WERDEN MICH NICHT ZUM BRÜLLEN BRINGEN , meine Damen, meine Herren. Nachdem er gebrüllt hatte, nahm das Publikum eine dösende Haltung ein und ließ ihn in dem Glauben, er sei zu hören, und zu verstehen.
Tut mir leid, Gesine.
Ganz und gar nicht. Vernünftigeres hast du den ganzen Abend über nicht zuwegegebracht.
Die wollten sehen, ob ich mich wehre?
Bist du immer so begriffsstutzig?
Beifall gaben sie ihm an keiner Stelle, auch nicht als er die Bestellung eines Nazis zum westdeutschen Bundeskanzler nicht länger übergehen konnte. - It wasn’t meant as a slap in the face of surviving victims, though the world felt it was. Es mangle lediglich an Verständnis dafür, daß jede deutsche Regierung dieses Jahrhunderts gemessen werde an ihrer Distanz zum Establishment der Nazis. Der Kanzler sei nicht gewählt worden wegen seiner Verbindung mit den Nazis, es sei nur diese Seite der Sache vergessen worden. Über das Vergessen hätte Johnson besser geschwiegen. Ohnehin waren seine Sätze zu lang, zu deutsch, und obwohl er manchmal wieder kurze Stücke der amerikanischen Melodie erwischte, erschien er hilflos. Ihm war nicht zuzutrauen, daß er selber das Land verstand, geschweige denn erklären konnte, für dessen Erklärung er sich hatte haftbar machen lassen; er hatte noch nicht begriffen, daß Zeit und Adresse ihm die Schuldlosigkeit des Fremdenführers aus den Händen genommen hatten und ihm jedes analytische Wort im Munde umdrehten zu einem defensiven. Vielleicht ging ihm etwas auf bei der folgenden Ansprache von Charles G. Moerdler (früher Leipzig in Sachsen), dem die Technik nun wahrhaftig vor den Lippen zusammenbrach und der kein Mal aus dem Saal zu lauterem Sprechen ermahnt wurde, der allerdings nicht nur einer der ihren war sondern auch der Städtische Beauftragte für Gebäude in New York, der sich den Unterzeichnern seiner Entschließung auch als Name in künftigen Wahllisten einprägte. Johnson saß krumm hinter dem grünen Tuch, hielt sein Manuskript mit beiden Händen abgedeckt, spiegelte das Licht der Scheinwerfer in seiner Glatze und musterte den Saal nur flüchtig mit Blicken zwischen Brauen und Brillenrand hindurch. Sonderbarer Weise trug er zu einem bürgerlichen Hemd eine Jacke
Weitere Kostenlose Bücher