Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
die Welt gebracht; im Gegenteil war Dankbarkeit von ihm verlangt.
    Er war kaum je mit Lisbeth allein, und nie ohne die Erwartung, im Alleinsein gestört zu werden.
    Am Tag bevor die Taufe abgehalten werden sollte, rief Gertrud Niebuhr in Jerichow an. Sie nahm Cresspahl, der das Telefon bediente, in ganz eigensinniger Erwartung für Papenbrock. - Hä Papenbrock! sagte sie zu ihm, aufgeregt vom Sprechen in die ferne Welt hinaus, und es stellte sich heraus, daß sie Cresspahls Adresse in Richmond verlegt hatte, die schußlige Schwester. Sie wollte ihm schreiben. Sie wollte ihm schreiben, daß es der Mutter »nicht so gut« ging. Nein nichts Ernstes. - Heinrich, du kannst das doch nich sein, der da spricht! Du büst doch in Inglant!
    Am Tag der Taufe fuhr Cresspahl über Blankenberg und Sternberg und Goldberg nach Malchow, weg von Jerichow, mit einer Erleichterung, die ihm noch lange auf dem Gewissen liegen sollte.
    Das Haus für das Kind Gesine hatte er nicht angesehen.
    Heute ist ein schöner Tag für die New York Times. Sie hat ihren Umsatz im Oktober ausgerechnet und meldet: Ein Rekord von 8 256 618 verkauften Anzeigenzeilen! Ein Rekord von 963 130 verkauften Exemplaren an Werktagen! Ein Rekord von 1 588 091 verkauften Exemplaren an Sonntagen! Sie meldet dies auf einer Seite, für die sie sonst um die sechstausend Dollar hätte bekommen können. Aber sie will nicht kleinlich sein, in ihrer Freude.

5. November, 1967 Sonntag
    Der Kriegsminister Nord-Viet Nams schrieb einen Artikel und würdigte darin die chinesische Unterstützung im Krieg. Er widersetzte sich den dringenden Bitten der Sowjets, jenen Satz zu streichen. Nun stand er in der Krasnaja Swesda, und nun ist es auch in der Sowjetunion wahr.
    Wir sind den Broadway hinuntergegangen von uns bis zur 79. Straße und zurück durch den Riverside Park, die Uferpromenade und die Straße, und Marjorie schien nirgends.
    Sie heißt nicht Marjorie. Wir wissen ihren Namen nicht. Wir kennen sie nicht. Sie ist uns zugekommen im vergangenen Winter, ein Mädchen, das an der 97. Straße auf den Bus 5 wartete. Es war ein Tag mit ätzendem Wind, kalt genug das Warten eindringlich und inständig zu machen. Sie stand nicht krumm und im Unglück der Kälte zusammengezogen; sie machte aus dem Frieren eine sorgfältige und zierliche Pantomime. Es sah aus, als fröre sie aus Kameradschaft. Wir gaben ihr nur ganz wenig Worte, und schon vertraute sie uns an: sie sei froh, dies Wetter nicht versäumt zu haben. Sie sagte es als eine Wahrheit, und da es ihre Wahrheit war, kam sie nicht zudringlich heraus. So zutraulich ist sie.
    So anmutig kann sie leben. Das Wort schön, für sie ist es übriggeblieben. Sie kann unter wuchtigen Capes verbergen, daß sie schon sechzehn Jahre lang richtig gewachsen ist, sehr schlank, noch nicht schmächtig, auf langen Beinen, die auch die Blicke weiblicher Passanten auf sich ziehen. Es ist ihr Gesicht. Ihr Gesicht ist eine Auskunft über sie, die nie enttäuscht, nie zurückgenommen werden muß. Sie hat blasse, durchscheinende Haut (eine Farbstufe unter Rosa), dazu trägt sie schwarzbraunes wolkiges Haar bis über die Schulterblätter, sie hat Brauen aus winzigen Einzelheiten und schwere dunkle Augen; das sind ihre Mittel. Wir sehen ihr auf den Mund, weil er jung ist, wir sehen ihr auf die Lippen wegen ihres ganz bewußten, absichtlichen Lächelns. Es ist ernst, es ist überlegt. Es bedeutet etwas, es ist verständlich. Es ist freundlich. Was andere zu den Festen geschenkt kriegen, davon kann sie leben, aus dem Vollen.
    Sie sieht uns, sie strahlt. Sie redet mit ihren schwarzen Augen, und wir glauben ihr. Es ist nicht erfindlich, warum sie glücklich sein sollte, uns zu sehen; wir nehmen es hin ohne Widerrede in Gedanken. Noch wenn sie den Riverside Drive herunterkommt inmitten ihrer redseligen und lachlustigen Freundinnen, sie hat einen einzelnen, eigens für uns abgetrennten Blick abzugeben, der sagt, als hätte sie insgeheim neben unserem Ohr gesprochen: Es tut mir wohl, euch zu sehen. Es ist nicht einmal unbehaglich. Da ist kein Zweifel. Sie verhängt ihre Wahrheit über uns. Sie kann noch nur ausdrücken, was sie ist. Sie hat eine Art, sich uns zuzuwenden, aufmerksam, heiter, fast ergeben vor Teilnehmen, in einer schön aus Schultern und Nacken laufenden Bewegung, deren Abbild im Gefühl abgemalt wird wie eine Berührung. Sie umfaßt uns mit ihrem Blick jedes Mal, als erkennte sie uns, nicht nur ihr Bild von uns, auch was wir wären. Und wir

Weitere Kostenlose Bücher