Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
abgedeckt wie von einer anderen Haut. Mit geschlossenen Augen schiene sie jetzt blind. Nur die kleinen weißlichen Haare, die ihr an den Schläfen aus der Kapuze kriechen, laden zum Wiedererkennen ein. Aber sie wartet. Sie ist ganz sicher, daß hinter dem Vorhang aus Dunst das Rathaus von Richmond hervortreten wird, in der Wirklichkeit so unzerstörbar wie in der Erinnerung. - Ich möchte nirgends leben, nur in New York: sagt sie.
Cresspahl mochte ein Leben in Jerichow nicht einmal denken. Es wäre ein Leben mit den Papenbrocks gewesen.
Er hatte sich vor zwei Jahren auf die Papenbrocks eingelassen mit der heimlichen Gewißheit, er werde mit ihnen weder ins Gefühl noch ins Geschäft kommen müssen. An Lisbeth hatte er beachtet, worin sie ihrer Familie fremd schien. Nun war er immerhin schon gezwungen, die Familie kennen zu lernen.
– Bin ich verläßlich mit niemand auf der Welt verwandt? sagt Marie.
– Außer mit mir.
– Na ja, mit dir. Aber die anderen darf ich mir aussuchen.
Von Horst Papenbrock hatte er Feindseligkeit erwartet. Nun betrug Horst sich nahezu verständig bei den wenigen Mahlzeiten zu Hause, die seine dienstlichen Obliegenheiten ihm erlaubten. Er wünschte sich von Cresspahl den Vornamen, gab aber ihm den Familiennamen als Anrede zurück; darin war etwas vom Benehmen des Jüngeren. Er versuchte nicht, von seinen Taten mit der S. A. zu erzählen; nicht einmal drang er darauf, am Tischgespräch teilzunehmen, selbst wenn der seiner Aufsicht unterstellte Speicher beraten wurde. Saß still vor seinem Teller, die linke Hand locker im Schoß, und löffelte die Suppe, vorsichtig schlürfend, ganz beständig nach unten blickend, als sei die Flüssigkeit ein Spiegel oder geschrieben. Es sah nicht müde aus, eigentlich planend. Wenn Edith ihm Gefolgschaft in der Diele meldete, veränderte er sich während er aufstand, nahm die Schultern zurück, das Kinn hoch, schritt wie auf einer Bühne zur Tür, die Hand mit der Serviette locker schwenkend, so daß das Tuch die braunen Stiefel tätschelte. Kam er zurück nach einem Wortwechsel, der sonderbar scharf und hackig durch die Tür zu den Essenden gedrungen war, schien sein puppiges Gesicht vergnügt bis in das spitze Dreieck, das seine Nase war, vergnügt nach innen hinein, mit halb vorfreudigem Lächeln, und jetzt hielt er die Serviette in der Faust und schlug mit ihr gegen die Stiefel, fest und doch unaufmerksam. Offenbar war er nicht geübt, Freude zu zeigen. Die Arbeiter auf Papenbrocks Hof und Speicher hatten ihn nicht als den Chef behandelt, sondern vom Alten seinen Spitznamen Söhner übernommen. Papenbrock sin Söhner. Jetzt wandten sie sich halb weg, wenn das Militärische an seiner Befehlsgeberei sie zum Lachen brachte. Noch hatte er keine Eile, seine Zucht auf dem Speicher durchzusetzen. Im Krug hatte Cresspahl erzählen hören, der junge Papenbrock habe das Auto gesteuert, aus dem Voss in Rande auf die Straße geworfen wurde, übrigens nicht mit Knüppeln, sondern mit Peitschen kaputtgeschlagen. Der Sprecher hatte Cresspahl nicht gekannt, und als er mit Rippenstößen auf diesen Verwandten Papenbrocks am anderen Tisch hingewiesen wurde, hatte er ihm in die Augen gesehen, als mache eine Schlägerei ihm nichts aus. Cresspahl war nicht abgeneigt, nur die Gelegenheit schmeckte ihm nicht. Horst hatte Voss in Rande abgestritten. Er befasse sich nicht mit Kroppzeug. Kroppzeug war Cresspahl genannt worden für Horst, der Abschluß alter Rechnungen, alter Feindschaften, alter Kränkungen, nicht so sehr die nationalsozialistische Sache, von der Horst sprach, nicht aufdringlich, aber bei Anlaß, in einer stockenden, schüchternen Weise, wie von etwas Heiligem. Da waren gewiß genug Mädchen in und um Jerichow, die lieber nicht Horst, sondern einem Anderen den Gefallen getan hatten. Für den mochte Cresspahl nicht geradestehen, ob nun in Uniform oder nicht, und so wehrte er sogar Horsts respektvolle Erkundigungen nach seinem Kriegsdienst ab, tat ihn ab mit zerstreutem Schweigen, gerade noch erträglicher Beiläufigkeit, wie einen jungen Hund. Was sollte er mit einem guten Einvernehmen, das er nicht zu benutzen gedachte.
Mit dem Alten ging es. Es ging nicht gänzlich angenehm, wenn Papenbrock seinen Schwiegersohn in einem fort hineinziehen wollte in ein Spiel, in dem regelmäßig Schnäpse hinter Louises Rücken zur Brust genommen werden mußten. Es ging nicht gut, daß der Alte zwar nicht genau über die Rückkehr der Cresspahls nach
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