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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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blickt klar, spricht in leisem Ton, sein schwarzes Haar beginnt grau zu werden. Er ist ein Leser anpruchsvoller Zeitschriften und französischer Kriminalromane. Nach sechs Stunden Schlaf in seiner geräumigen und wohnlich ausgestatteten Kabine unterhalb des Flugdecks wird er um halb sieben geweckt. Dann zieht er sich an. Dann trinkt er eine Tasse Tee. Dann macht er zehn Minuten lang Freiübungen. Dann steigt er auf die Kommandobrücke und läßt sich nieder in einem weiß gepolsterten Drehsessel mit den zwei Sternen. Nun öffnet er den Aktendeckel mit den Geheimbefehlen, die auf rotes Papier gedruckt sind.
    Am Samstagabend in Poughkeepsie erschien Gary Sickler, 26 Jahre, in einem Schnapsladen. Die Verletzungen an seiner Hand wollte er aus einem Überfall durch zwei Männer und eine Frau haben. Er führte die Polizei zum Ort des Überfalls, in eine begehrte und bebuschte Wohngegend, zu einem Auto, in dem die Leiche von Kathleen Taylor lag. 22 Jahre, erstochen. Sickler, verurteilt wegen Vergewaltigung, war auf Bewährung frei gewesen.
    Der freundliche Tabakhändler Stephen Zachary Weinstein aus Philadelphia wurde gesucht, weil er womöglich einen achtzehnjährigen Studenten, der eine Pfeife kaufen wollte, mit Drogen betäubt, mit Schlägen mißhandelt und endlich erdrosselt hat. Die Leiche wurde in einem Koffer auf dem Delaware treibend gefunden, und S. Z. Weinstein wurde gefunden, weil er in New York Theaterkarten zu kaufen suchte. Viele auswärtige Besucher halten die Theater von New York für unerläßlich.
    Das andere Bild auf der ersten Seite der New York Times ist achteinhalb mal fast sieben Zoll groß. Es zeigt den Präsidenten Johnson mit Frau, Töchtern und Schwiegersöhnen. Die Nachricht besteht darin, daß die Leute in der Kirche gewesen sind.
    Cresspahl fand seine Mutter in einem Dorf südöstlich von Malchow, in einem fremden Bett. Sie war im Tod nicht kleiner geworden, aber als er sie anhob, fühlte er sie wie ein schlafendes Kind in den Armen.

7. November, 1967 Dienstag
    Nein! Nein! Nein! rief Frau Erichson. Sie sah uns vor ihrer Tür und sagte Nein zu uns, Begeisterung im Gesicht, vorgebliche Ablehnung in der Stimme, als sähe sie uns nicht, als könnte das Telefon nicht Wirklichkeit ankündigen, als müsse Manhattans Busbahnhof gerade an einem Montagabend abbrennen, als werde der Hudson ausgerechnet an diesem Tag den Lincoln-Tunnel verschlingen, als möchte dann noch die Bundesautobahn 80 in die Sümpfe New Jerseys brechen, so daß niemals verläßliche Aussicht gewesen ist auf uns als Gäste zum Abendessen. - Nein! sagte sie, sanfter, nur um die Mischung aus Augenschein und würzendem Zweifel noch einmal nachzuschmecken, während sie uns längst in ihre Diele zog. Es sollte Freude ausdrücken. Es ist eine mecklenburgische Eigenheit, Besuch oder Nachricht willkommen zu heißen. So tun alte Leute in Mecklenburg.
    Nun fühl dich gefälligst wohl, Gesine Cresspahl. Und du hast doch gelacht, gegen deinen Willen.
    D. E. hat das Haus gefälscht. Nicht nur hat er die gegeneinander versetzten Schindelkästen mit frischen Balken und Klammern wieder so kräftig gemacht wie ein junges Haus, er hat auch dessen Lebensweise geändert. Die Kolonialstil-Möbel in Diele und Wohnräumen sind zu gut erhalten, zu kostbar für ein Haus von Bauern. Hinter den von Hand gemachten Türen finden sich unverhofft von Licht gleißende Zellen, ausgebaut mit den neuesten Erfindungen der sanitären Wissenschaft. So hell haben die alten Lampen nie vorher geleuchtet. Die diskreten Gitter in den hundertjährigen Dielen mögen echtes Messing sein, durch sie schickt eine automatische Heizung warme Luft in die Ausstellung der Antiquitäten. Das Haus ist an jeder Stelle beaufsichtigt durch einen Plan; da mögen die Lederkissen schief liegen, da mag ein Telefon mitten auf dem Teppich vergessen sein, da mag eine Katze auf einer Schreibmaschine schlafen, das Haus käme der New York Times gerade recht als ein Beispiel für Tradition und Technik in der Innenarchitektur. Das Haus ist von Grund auf neu ausgedacht, aufgeteilt in einen gemeinsamen und drei separierte Bereiche: den für Frau Erichson im Erdgeschoß neben den Wirtschaftsräumen und dem Wartesaal für alle Bewohner, den für D. E. auf der östlichen Seite des Stockwerks darüber, und einen dritten auf der gleichen Ebene. Er ist auf einer eigenen Treppe zu erreichen, eine Reihe brauner Türen an einem Gang aus weißer Farbe und Musselinfenstern, von der anderen Hälfte dieses

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