Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Geschosses getrennt durch eine Quertür, der diesseits der alte Riegel und Schlüssel belassen worden sind. Hier ist ein Zimmer mit verglasten Regalen und einem Schreibschrank, hier ist ein Raum, für den das Hotel Marseille an der West End Avenue pro Tag und Nacht fünfunddreißig Dollar kassieren würde, hier ist eine verschließbare Höhle für ein etwa zehnjähriges Kind, das am liebsten ungesehen und ungefragt und ungehindert und vor allem rasch über eine eigene Treppe in den Garten können will. Es ist alles da. Das Kinderzimmer hat seine Hängematte und seinen Fernsehapparat, im Bad sind die Handtücher verschwenderisch gestapelt, im Studierzimmer hält der Sekretär das Schreibpapier groß und klein und dick und dünn bereit und stehen hinter dem Glas die Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Großherzogthums Mecklenburg-Schwerin ebenso wie Professor Wossidlos gesammelte Wörter und die Meinung von Herrn Johannes Nichtweiß über das Bauernlegen in Mecklenburg, 1. Auflage, Berlin (Ost) 1954. Diese Hälfte heißt der Gästeflügel, es sind außer Cresspahls Gäste noch nicht da gewesen. Hierhin stellt D. E. uns die Koffer, nicht nach drinnen, sondern auf den Gang, neben die Tür.
Hier könntest du wohnen, Gesine Cresspahl. Mindestens fühl dich wohl.
Das Haus hat seine Ordnung, die Ordnung läuft wie eine Uhr, die Ordnung zeigt den Gästen lediglich die Zeit, hält keinen fest. In der Stunde vor dem Abendessen wohnt D. E. auf den Hockern um die hohe Frühstückstheke am Küchenfenster und bespricht sich mit seiner Mutter und kopenhagener Bier; gestern abend saß ihm gegenüber Marie, hatte das Kinn dauerhaft in beide Handgruben gestemmt und ließ sich unterrichten in den Vorstellungen von den Grenzflächen der ursprünglichen Erde, denen Herr Dr. Andrija Mohorovičič im Jahre 1909 anheimfiel, und über das amerikanische Projekt, zu seinen Ehren Löcher in den Meeresboden zu bohren, Moholes. Mit dem gemächlichen Schurren von Bratenpfannen und dem Knacken des Kühlschrankschlosses vermischt drangen die Stimmen als undeutliches Geräusch durch die Balkenlagen nach oben, vertrauter als geheuer war. Vor dem Fenster war der Wind daran, kahle Äste in einer Faust zu fangen, öffnete und schloß die Faust, erholte sich in hechelnden Pausen. Unter der Dunkelheit des Himmels quoll der Innenraum des Hauses auf, dehnte sich aus mit Licht und Wärme und menschlichem Leben. Als Marie kam, eine Katze auf der Schulter, ganz haarig vom rückwärtigen Lampenschein umrissen, habe ich sie verwechselt mit dem Kind, von dem ich träumte, dem Kind das ich war.
Bist du sicher, daß du nicht mehr schlafen mußt, Gesine? Du kriegst dein Essen, wann immer du es willst. In diesem Haus geht es nach den Wünschen der Gäste.
In diesem Hause werden den Gästen Wünsche in die Augen gelesen. Schon während des Essens bestand D. E. nicht auf seinen eigenen Geschichten, sondern brachte seine Mutter mit umsichtigen Fragen, Rückfragen, Zwischenfragen ins Erzählen, so daß die alte Frau ganz wach wurde in der Nacht und den Kopf hochnahm. Ihre großen grauen Vogelaugen hielten den Blick der Zuhörer fest, machten niedergeschlagene Lider unbequem. Sie wollte ihr Erzählen widerspiegelt sehen; sie mochte sich nicht vergebens anstrengen. Wie ihr Vater 1911 zum Wollmarkt nach Güstrow fuhr. Ihr Kopf ist schrundig vor Alter. Überall ist die Haut tief und scharf umgegraben, tiefer als der Wind von siebzig Jahren es vermöchte. Wie die Bauerntochter nicht in die Stadt heiraten sollte, und nicht einen Friseur. Unter ihren Augen die dunkel eingefärbten Tränensäcke machen ihr Gesicht noch schmaler, eingedörrt, eingefallen. Sie sieht aus, als lebte sie mit allerletzter Kraft; sie hat aber erst im vorigen Sommer die Prüfung im Autofahren abgelegt, die hackt ihr Holz noch selber. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das Friseurgewerbe in Wendisch Burg. Wie Schusting Brand sich die Haare aus Freundschaft schneiden ließ und wegen der Freundschaft nur den halben Preis entrichten wollte. Diesen Schuster wollen wir uns merken. Nach 1933 ging es aufwärts mit dem Friseursalon Erichson, zwei Mädchen in der Damenabteilung, nicht lange drei Gesellen für die Herren. Ihr eigenes Haar sieht aus wie ein unter Wasser gebleichtes, von Wasser ausgefrästes, dann zackig und splittrig abgebrochenes schlohweißes Brett. Anderes als Wasser benutzt die wohl nicht mehr. Gespräche beim Frisieren. Von Herrn Hitler hielt sie nicht viel. Das sagt sie mir zu
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