Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
glauben ihr. Wir verdächtigen nicht ihre Aufrichtigkeit. Mit ihr läßt Freundlichkeit sich tauschen, als sei sie noch ein Wert. Am Anfang dachten wir, sie ist nicht amerikanisch.
– Sie ist die Tochter von einem General: sagt Marie.
– Das ist sie nicht. Sag das nicht.
– Doch. Generalquartiermeister, Generalmusik …
Sie spricht ein genaues, vielwortiges Amerikanisch, fast ohne Jargon, nur mit der Spur eines mittelwestlichen Akzents. Sie ist auf die Sprache nicht angewiesen, sie kann sich deutlich machen ohne dies fehlerhafte Mittel; auch dies benutzt sie nicht fahrlässig.
Wann immer wir sie sehen, sie hat etwas Neues, sich darzustellen. Sie kommt uns mit einem großen Hut mit breiter Krempe, sie wünscht ihn gewürdigt, sie will uns einen Spaß machen. Die Knöpfe mit den Aufforderungen an die übrige Menschheit trägt sie auch (Holt unsere Jungen nach Hause! Unterstütze die Polizei: Schmiere deinen Freund und Helfer!), aber an der Hutkrone, an der Handtasche. Ihre Haare, einmal hängt sie sie auf mit vier Zoll Schleife, dann genügt ihr ein Schnipsband, beim nächsten Mal hat sie fünfzig Gramm Nadeln in Verschränkungen verbaut. Wie an einem Tag nur lila Strümpfe, kann sie am anderen nur kupfergrüne tragen, keine andere Farbe wäre richtig gewesen. Sie betritt den Broadway in einem Kleid, mit dem ihre Großmutter zu Anfang des Jahrhunderts in Scarborough an der See war (nicht in Scarborough), eine wallende, eine geraffte Geschichte von einem Kleid; sie hat eine frische Mode getroffen, jedoch ohne Absicht. Es ist das echte Kleid aus dem echten Schrank ihrer wirklichen Großmutter. Sie sagt es.
Sie stieg in den Bus 5, in dem wir saßen. Sie war entzückt. Wir verließen den Bus wie sie an der 87. Straße. Sie fand es ausgezeichnet. Wir gingen gemeinsam in die 87. Straße hinein. Sie wußte sich vor Befriedigung nicht zu lassen. Wir erklärten ihr unser Ziel. Sie erklärte uns ihr Ziel. Mehr hatte sie für diesen Tag gar nicht erwarten können, als daß wir nun auch noch Freunde in der selben Straße haben. Plötzlich blieb sie stehen und rief einen Namen empor an den siebzehn Stockwerken, schmetternd und siegesgewiß, glücklich über die Kraft in ihrem Hals, winkte uns hinterher mit ihrem ganzen langen Arm, rief den Namen ihrer Freundin, winkte, hob ihr strahlendes Gesicht gegen den Himmel.
In unserem Viertel erschrecken wir bloß noch aus Gewohnheit, wenn Einer hinterrücks uns auf die Schulter klopft. Denn wenn es in einem Doppelschlag getan wird, mit ganz leichten, geraden Fingern, ist sie es. Ihr Gesicht wird nicht von der Grimasse zerkerbt, es ist locker aufgefaltet in der Erwartung der kommenden Freude. - Hei: sagt sie, und sie könnte noch dem verstocktesten Ausländer begreiflich machen: Es ist eine Begrüßung. Es ist eine von den vernünftigsten, natürlichsten, glaubwürdigsten Sorten der Begrüßung. Sie zeigt es dir, damit du es lernst.
Jemand aus den Märchen von tausendundeiner Nacht.
Wenn die Schule sie müde gemacht hat, erscheinen auf ihren Wangen zwei umfängliche Flecken, eindeutig rot, Zeichen von Gefahr.
In diesem Winter stand sie an der Ecke des Broadway mit der 96. Straße, wo der eiseskalte Wind vom Hudson ohne Sperre den Berg hinaufschlagen kann, und schnupperte in das Wetter, ihr zartes verletzliches Profil vergeßlich erhoben, und sie sagte, verschmitzt und geheimnisvoll: Nun ist es vorbei. Mit ihrem Gesicht, noch mit ihren Halssehnen kann sie eine Empfindung unversehrt und kenntlich übermitteln und sich aussprechen außerhalb der Wörter in einer Sprache, die als verloren gilt. Insgesamt hatte sie geäußert: Da mag noch Eis gehen, da mag noch Schnee kommen, die neue Jahreszeit ist in der Luft und wird da wachsen. Die Erde hat sich erinnert. Bedenken Sie, Mrs. Cresspahl. Bedenken Sie diesen Geruch.
Sie kennt von uns nicht den Namen. Wir kennen von ihr nicht den Namen. Sie will von uns nichts. Wir können von ihr nichts wollen. Es ist ohne Zweck.
Wenn jemals, Mrs. Cresspahl, die Stadt New York Ihnen Schaden oder Leides getan hat, bin ich beauftragt, Ihnen zu sagen: Es sollte nicht sein. Es ist geschehen durch ein Versehen. Es tut uns leid, und ich werde Sie trösten.
Heute war sie nirgends zu sehen.
6. November, 1967 Montag
Die New York Times war zu Besuch auf dem Flaggschiff des Konteradmirals Ralph W. Cousins, dem Flugzeugträger Constellation, dessen Maschinen dem nordvietnamesischen Herzland mit ihren Angriffen zusetzen. Cousins ist 52 Jahre alt,
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