Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
einem Sandweg, der Friedhofsweg heißt, oder Ziegeleiweg, wegen des langen roten Trockenschuppens auf der anderen Seite, langweiliger gemauert als die Einfriedung der Toten mit ihren oben schräg gesetzten Steinen und glasierten grünen Rundkuppen. Gegenüber der Mitte der Ziegeleiwand ist die Friedhofsmauer in eine Beule zurückgenommen und geöffnet mit einem mannsbreiten Pförtchen und den großen, oben rund und spitzen Toren der Leichenhalle, die so billig aufgeführt ist, daß sie verputzt werden mußte. Wo links das Tor der Ziegelei den großen Arbeitshof verrät, kann man rechts Creutz über den Zaun sehen. Das Land gehört der Kirche; sie hat es an Creutz verpachtet, da sie es noch nicht braucht für die Toten. Wende dich rechts über die Schulter: von den Toten ist nichts zu sehen. Hinter dem dick verwachsenen Holunder an Creutz’ Grenze schimmert der Backstein der Kirche durch. Von hier sieht der Turm mit den Schildgiebeln am höchsten aus. Schräg gegen die Einfahrt der Ziegelei versetzt steht neben Creutzens Pachtland in einem aufgeräumten Garten hinter weißgestrichenem Schmiedegitter die Villa der Ziegelei. Der feierliche Mast inmitten der Rabatten hat schon die Fahnen des flüchtigen Kaisers gezeigt. Weiterhin ist der Weg nicht bebaut. Er läuft zwischen Wiesen und Ackerland auf und nieder nach Westen ins Leere, er erreicht nicht einmal ein Dorf. Jetzt ist, zur See hin gelegen, das Bruch zu sehen. Da steht, links hinter einem verunkrauteten Grasplatz, ein niedriges Bauernhaus unter angeschwärztem Walmdach. Jetzt bin ich zu Hause.
Cresspahl ging nicht zuerst in das Wohnhaus. Einige Fensterscheiben waren eingeworfen. Mehr brauchte er vorerst nicht zu wissen.
Die Bauern, die sich diesen Hof angelegt hatten, waren einmal so reich, daß sie auch ihre Scheune aus Ziegeln hochziehen ließen. Die Scheune, quer gestellt, war höher als das Wohnhaus, oben mit überstehender Teerpappe gedeckt. Die nördliche Seite der Scheune war fast ganz Tür, zwei hohe, vom Seewind angefressene Holzflügel, deren einem eine Klapptür für Menschen eingesetzt war. Innen in den Fächern der Scheune war ausgefegt. Zuletzt hatten die Bauern gespart. Nur unbrauchbares Gerümpel hatten sie hinterlassen: einen angeknickten Rübenschneider, gebrochene Deichseln, Sauerkrautfässer, ganz heil und lackglänzend den Schmutzfänger einer Sonntagskutsche. Die Stallräume in der östlichen Hälfte stanken von dem verfaulenden Stroh. Hier waren Boxen für Schweine, Schafe, Krippenraum für zwölf Haupt Kühe, vier Pferde. Seit sie weggetrieben waren, hatte hier der Wind gewohnt. Der Bau war so ausgekühlt, es waren weder von Liebespaaren noch von Katzen Spuren zu sehen. Der Misthaufen hatte wohl drei Jahre gebraucht, um so trocken zusammenzuschnurren. In die Ställe war Licht gelegt. Wer aber den Schalter versucht, dem saust der Strom bis in die Schulter, daß der Arm wirbelt. Die Vorgänger wollten sagen: Nimm dir unser Unglück.
Hinter dem Haus stand ein schwarzer Baum voller Amseln.
Nach Süden, Westen, Norden hin war es leer um den Hof. Nur der Wind sprach. Im Norden war ein Loch zwischen Erde und Himmel, ein Streifen Ostsee.
1. Wenn man will, lassen zwei Drittel der Türfläche sich verglasen. Dann käme genug Licht hinein für Tischlerarbeiten.
2. Das meiste bei der Instandsetzung konnte Cresspahl selber machen, wenn er wollte.
3. Wenn man will, kann man die Bewohner von Villen zwingen, Sägengeräusch während der üblichen Arbeitszeiten zu dulden.
Wenn man will.
Es ist nicht richtig, auch nur einen einzigen Tag aus New York herauszufahren. Prompt haben wir die ersten Schneeflocken in der Stadt versäumt. Heute tut der Tag mit kalter Sonne, als könnte er kein Lüftchen trüben.
9. November, 1967 Donnerstag
Gestern in Frankfurt kam Adolf Heinz Beckerle vor Gericht unter der Anklage, er habe als Hitlers Gesandter in Bulgarien bei der Deportation von 11 343 Juden in Todeslager geholfen. Im Gegenteil behauptet er, 40 000 bulgarische Juden schuldeten ihm ihr Leben. Mit ihm angeklagt ist ein früherer Kollege des westdeutschen Bundeskanzlers, Fritz Gebhard von Hahn, wegen 20 000 griechischer Juden.
Es ist eine kleine Meldung tief unter dem obersten Rock der New York Times. Eine ausdrückliche Meinung äußert sie heute über das Vorhaben des Bürgermeisters, sich von der Geschäftswelt ein halbstündiges Fernsehprogramm bezahlen zu lassen. Die alte Dame haut seiner Ehren John Vliet Lindsay den Arsch voll. - Es geht um
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