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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die Schicklichkeit! ruft sie, und schlägt abermals zu. An Kräften gebricht es ihr ja nicht.
    Es ist Donnerstag, und die Telefonverwechsler schlagen zu vom frühen Nachmittag an. Der erste, noch unerfahren im Geschäft, wollte nur wissen, ob Marie etwa RI verside 9-2857 sei. Sie gab ihm streng zur Antwort, daß er 749-2857 in der Leitung habe, und obwohl die Zahlen 7 und 4 den Buchstaben R und I auf der Wählscheibe entsprechen, trieb Verblüffung den Mann zum Auflegen. - Als kennte er nicht das amerikanische Telefon: berichtet Marie, mit Genuß. Sie hält es für einen brandneuen Trick, und sie hat ihn erfunden.
    Im Anfang hatten wir das Telefon zu verwalten, das uns die Damen Bøtersen und Bertoux mit der Wohnung übergaben. Es hörte auf eine Nummer, die mit MO nument begann, und meldete sich viele Male. In Deutschland hatten die Klingeln unversöhnlich und bellend angeschlagen; hier träufelte mildes Gebimmel aus dem Apparat, zäh und zierlich wie die Gebärde einer Katze, die sich nach dem Aufwachen reckt. Da fragten Herren nach Ingrid und wollten mit Françoise sprechen, und Françoise sollte Ingrid ins Gran Ticino mitbringen, und kaum Einer konnte es fassen, daß beide Mädchen nun auf den Flughäfen Kastrup und Genf in Postschließfächern wohnten, und nicht wenigen war gelegen an dem Vornamen, den die neue Stimme im Mikrofon anzubieten hatte. Dann operierte die Telefongesellschaft dem Apparat die Seele aus dem Gehäuse und nahm sie zum vorläufigen Ausruhen auf Lager.
    Dann wurde uns RI 9-2857 ins Haus gebracht, und sollte nur die Leine halten zur Praxis von Dr. Brewster, zu einem Krankenhaus für Kinder. Aber das Kind wollte spielen, wie man Telefonieren lernt, und war bald die erste, die dem winselnden Gerät das Joch aus dem Nacken nahm und auf die amerikanische Weise fragte: wer es ist, nicht: wer da ist. Und an diesem Telefon lernte Marie, unter Aufsicht zu lügen. Denn da setzten Fremde sich in die Leitung und wollten nicht nur hören, daß sie die Nummer Cresspahl gewählt hatten, auch ob die Wohnung Cresspahl im 3. oder 13. Stockwerk zu finden war, unter der Bezeichnung 13 A oder 134, weil das öffentliche Nummernverzeichnis den Kriminellen immer noch nicht die feinere Vorbereitung eines Einbruchs abnimmt, und Marie beschrieb ihnen nicht nur die Lage von Appartement 204, sondern sie vertraute ihnen zusätzlich an: Ich bin allein. Nun mußte ein Onkel Humphrey erfunden werden, ein Grobian und Raufbold, der vorgeblich im Nebenzimmer schlief, für den Marie aus Streichholzschachteln ein Haus unter dem Telefon errichtete, und mit Onkel Humphrey mochten die Fremden nicht ins Gespräch kommen.
    Die waren nicht alle von einer Zunft. Da kamen auch solche, die über der Lektüre des Telefonbuchs hatten einschlafen wollen und sich die Schläfrigkeit an dem Namen Cresspahl vollends zerrissen und dringlich nach der nationalen Herkunft des Namens begehrten und unserer Meinung über das Ende der Welt genauso bedurften wie eines Zuhörers für Kriegserlebnisse in Deutschland. Da kamen solche, die die Nacht nicht aushielten, in einem vereinzelten Zimmer allein in der schlafenden Stadt, und nur noch bei Telefonen im anderen Stadtteil Verständnis erwarteten (ein Herr Abraxas aus Brooklyn). Von der Wut geschiedener Ehemänner gegen jedweden weiblichen Fernsprechteilnehmer blieben wir verschont, auch von den geschlechtlichen Phantasien unbekannter Betrunkener, weil der Name Gesine in diesem Lande nicht eine eindeutige Auskunft über den Träger liefert; die anderen blieben treu. Es entstanden Abonnements, so das mit dem indischen Ingenieur, der beim ersten Mal aus New Haven anrief und bei Tod wie Leben mit einer Else verbunden werden wollte, die nicht nur eine Deutsche gewesen sein muß, sondern auch eine Person mit ähnlicher Stimme, so daß er seine schmerzliche Enttäuschung über ihr Verhalten komplett bei New York RI -9-2857 ablud in dem eigentümlichen Deutsch, das das Ausländerinstitut in Leipzig in Sachsen den Gaststudenten der D. D. R. als gängiges Verständigungsmittel eintrichtert, und wenn jener Janin Landa nur alle vier Wochen anrief, so meldete sich George Abraxas alle vierzehn Tage. Dann fand uns noch D. E. beim gelangweilten Blättern im Buch von Manhattan, und wir ließen uns daraus streichen und zahlen die Gebühr gerne.
    Geblieben sind uns die, die Telefonnummern beim Würfeln zusammensetzen, und jene, die nach gründlichem Studium eine Lücke zwischen 7492856 und 7492858 entdecken, und die,

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