Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Gefallen, D. E. zu Gefallen. Nein, sie war von Überzeugung eine Royalistin, am liebsten hätte sie wieder das mecklenburgische Fürstenhaus an der Macht gesehen. D. E. war also ein Kind, das die abgeschnittenen Haare im Laden zusammenfegen mußte. Beim Mecklenburg-Manöver der neuen Wehrmacht sah sie Mussolini aus zehn Schritt Abstand. Mussolini in Mecklenburg? Sie ging einkaufen für die Juden, als die sich nicht mehr auf die Straßen von Wendisch Burg trauten, dabei waren das Akademiker. Wenn es doch zum Glauben wäre. Hätte sie es doch getan. Dankesbriefe aus Mexico City. Wirklich. Wie der alte Herr Erichson mit einem Mal sehr freundliche Briefe aus einem Arbeitslager bei Stalingrad nach Hause schrieb. Das wollen wir glauben. In Wendisch Burg gibt es die Fischer-Babendererdes und die Lehrer-Babendererdes. Die sind verwandt mit den Dührkops, den Buchbindern, in Neustrelitz, die verwandt sind mit den Bunges in Schwerin, den Sattlern, und die haben neulich geschrieben: in Schwerin ist einer Touristin aus Westdeutschland ein Balkon auf den Kopf gefallen, und nun werden alle Häuser der Stadt auf losen Putz abgeklopft. Das glauben wir nicht. Doch, Schwerin ist ganz scheckig. Wir werden ihr doch nicht sagen, daß wir das nicht glauben. Gute Nacht, Frau Erichson.
Nun hast du dich drei Stunden auf den steifen Stühlen gequält, D. E.
Anders als am Tisch erzählt sie nicht.
Und du hast riskiert, daß Marie sich langweilt.
Sie ist nicht übelnehmerisch.
Du dachtest, es würde mich freuen, D. E.?
Es ist gern geschehen, Gesine.
Na dann schönen Dank für die Geschichten.
Der Morgen beginnt tatsächlich mit dem Gefühl der Ferien. In New York ist Wahltag, die Banken und die Börse und die Schulen und die Schnapsläden sind geschlossen. Die Geräusche aus dem Haus zerreißen den letzten Schlaf nicht. Sie sind so bekannt, sie setzen sich hinter geschlossenen Augen in Bilder um. Das kleine abgefangene Klicken ist Frau Erichson, sie legt das nachpolierte Tischsilber in ihre samtenen Kästen. Der knappe Doppelknall ist das Mädchen aus dem Dorf, das morgens helfen kommt; wenn sie die Hände voll hat, zieht sie die Türen mit dem abgewinkelten Fuß hinter sich zu. Da ist auch ein Kind, das singt das Lied von der Coca-Cola Company. Dem Kind wäre es recht, hier zu bleiben, anderthalb Stunden von New York. Ganz fern, nahe der äußersten Haut des Hauses, murmelt D. E.s Schreibmaschine. Da wird Geld verdient, es würde für uns reichen. Jetzt singen sie dreistimmig in der Küche, Marie scheint zu dirigieren, und stellen dem Schicksal die Frage, wie die Coca-Cola Company es bloß schafft. Es ist ein Tag außerhalb der Welt. Hier sind wir gelitten. Ein Schritt auf den Gang, und sie werden ein zweites Frühstück in Arbeit nehmen. Auf dem Tisch wird nicht nur der Philadelphia Inquirer liegen, auch die New York Times. So stellt D. E. sich mein Leben vor.
8. November, 1967 Mittwoch
Es gibt auch Kritiker des amerikanischen Krieges in Viet Nam im Rang eines Generalleutnants der Fallschirmjäger. James M. Gavin denkt dabei weniger an die Bewohner Viet Nams. Er hält den Krieg einfach für zu teuer für die eigene Nation.
Die Zahl der Arbeitslosen ist von 4,1 Prozent auf 4,3 Prozent gestiegen, den höchsten Stand seit zwei Jahren. Das macht 3,8 Prozent unter Weißen. Das macht 8,8 Prozent unter Negern. Es sind aber nur ein Zehntel Neger unter den Bürgern des Landes.
Herr Paul Zapp, 63 Jahre alt, wurde in Bebra in Hessen festgenommen. Er ist verantwortlich für die Ermordung von mindestens 6400 Juden in der besetzten Sowjetunion. Ein falscher Name hatte bis vorgestern genügt.
Cresspahl kam zurück aus Malchow und ging das Haus ansehen, das seinem Kind angeboten war. Auf dem Weg durch die Stadtstraße sahen die Leute ihm mit Neugier entgegen und grüßten von sich aus, aus freien Stücken, auch Unbekannte. Papenbrock hatte den Tod von Grete Cresspahl, geborenen Niemann, in das Gneezer Tageblatt setzen lassen. Er wollte seinen Schwiegersohn wohl festbinden in Jerichow, und wenn er mit dem Gedächtnis der Jerichower anfangen mußte. Cresspahl hatte von der Anzeige nichts gewußt.
Am südlichen Ende der Stadtstraße steht das Haus für die Pastoren auf der rechten Seite, rote Steine, weiße Fenster, moosiges Ziegeldach. Die Gartenmauer ist auf der anderen Seite die des Friedhofs. Auf den beiden Flügeln des eisernen Tors können Kinder Halbkreise fahren. Dann zieht die Mauer ganz scharf nach rechts, zum Westen hin, neben
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