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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Wulff wie die anderen sah Cresspahls Abreise voraus. Überdies wollte Cresspahl nicht allein trinken. Wulff stellte ein Glas für sich selbst etwas hart auf die Schankbrücke, wie er an diesem Nachmittag überhaupt alles mit einer befriedigten Wut anstellte, ob er nun mit Seitenblicken Elli Wagenführ von Tisch zu Tisch schickte oder Cresspahl das geleerte Glas entgegenhielt mit einer Miene, als habe er etwas Bitteres abschmecken müssen. Elli Wagenführ, die Peter Wulff seit mindestens einem halben Jahr abendlichen Servierens kannte und zur Not ihm über den Mund fuhr wie sie der Kundschaft auf die Finger hauen konnte, sie redete ihn an diesem Tag nur mit Bestellungen an, und wenn sie hinter die Theke mußte, rührte sie sich nicht vom Spülbecken fort. Wulff kümmerte nicht, ob Cresspahl über etwas reden wollte, er hatte selber zu reden. Der kommunistische Landtagsabgeordnete Warnke hatte sich in Neustrelitz fangen lassen. Die Ortsgruppe der K. P. D. in Krakow am See hatte sich aus freien Stücken aufgelöst und sämtliche Mitgliedsbücher und Dokumente ans Landeskriminalamt Mecklenburg geschickt, mit der Versicherung »Wir haben es satt!« - Wir haben es satt! sagte Peter Wulff nebenbei, auf Hochdeutsch und als mache er einen Hochdeutschen nach. - Dor hett ein Ul sätn! sagte er, aufgebracht wie ein Mann, der es zwar vorher gesagt hat, nun aber nicht so gern recht bekommt, jedenfalls nicht ohne Ärger. Warnke und jeden ihm geläufigen Kommunisten beschimpfte er mit kurzen Lebensbeschreibungen, ob er nun die Verfehlungen ihrer Großväter oder ihr Bettnässen im zarten Alter heranziehen mußte. Sie hatten ihn so enttäuscht, er war über Erwarten gekränkt. Es war, als mache er eine Trennung wirklich, die vorher nur in Worten gegolten hatte. Nun redete er wie jemand, der eine Reise vorbereitet, ein nicht ungefährliches aber unterhaltsames Unternehmen, als gehe es endlich los, als sei nun wenigstens das Warten vorüber, als denke er mit grimmiger Vorfreude an den kommenden Tag; aber er tat es beiläufig, ohne viel Aufmerksamkeit für Cresspahl, denn er rechnete auf ihn nicht mehr in der Zukunft und nicht einmal über das Wochenende hinaus.
    Er kam nicht auf den Gedanken, daß Cresspahl etwas von ihm wollte. Cresspahl stand unauffällig vor ihm, eine Hand geruhig in der Hosentasche, mit der anderen locker an den Tresenrand gestützt, hielt den Nacken gerade und sein Gesicht still. Er betrachtete Wulff und zeigte nicht mit Stirnfalten, nicht mit den Augen, nicht mit den Mundwinkeln eine Antwort. Wulff konnte denken, daß Cresspahl alle seine Sachen bestellt hatte. Er kannte ihn nicht als redselig. Er hatte gerade genug zu tun mit der Suche nach einem passenden Wort über die tote Mutter des anderen; er wollte nicht noch sich hereinlegen lassen von der Gelegenheit des Abschieds. Er füllte die Gläser nach, nahm seins zuerst hoch, damit die Runde als seine Rechnung erkennbar war, und sagte: Dat’s nich üm mintwillen: secht de Wulff.
    – Oewest so’n Schap schmeckt doch gaud: secht he: sagte Cresspahl.
    Er hatte Keinem ausgesehen wie Jemand, der zwar einen Rat nicht braucht, allerdings einen anhören würde.

15. November, 1967 Mittwoch
    – Ich mag nicht was nun folgt: sagt Marie: Kannst du es nicht ändern?
     
    Was also wollte der Agitator Guevara in Bolivien errichten? Ein zweites Viet Nam.
    Den etwa 3000 Jugendlichen, die gestern abend um das Hotel Hilton herum gegen die Fortsetzung des amerikanischen Krieges in Viet Nam protestierten, hat die New York Times nicht nur ein Foto von 35 Quadratzoll unter dem eigenen Kopf gewidmet, auch die berühmte Spalte 8. Als die Polizei mit Motorrollern in Reihen untergehakter Demonstranten hineinfuhr, hat sie einen Hüter der Ordnung sagen hören: Ihr wollt behandelt werden wie die Tiere, und wir werden euch behandeln wie die Tiere.
    Die Sowjetunion läßt gleich zwei ihrer umgedrehten Spione reden. Einer weiß, daß die U. S. A. einen Militärputsch in Indien planten, und der andere sehnt sich doch nach englischem Bier mit Austern und Nachmittagen beim Fußball. Der eine heißt vielleicht tatsächlich Smith.
    In Queens stand John Franzese, das »Söhnchen« der Mafia, vor Gericht wegen der Ermordung des »Habichtes« Ernest Rupolo im Jahr 1964. Der Prozeß mußte abgebrochen werden, weil einige Geschworene in der Zeitung über den Angeklagten gelesen hatten. Söhnchen wurde ganz locker vor Erleichterung, und seine liebe Frau Tina warf ihm einen Kuß zu quer durch

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