Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
auswechseln wollte. Die Sitzung der Stadtverordneten hatte ihm für 1931/32 nicht nur vollständige, sondern ehrenvolle Entlastung erteilt, einstimmig, vielleicht, weil sie ihn wenigstens zur kommissarischen Weiterführung der Geschäfte hätten überreden wollen, sicherlich aber unter dem Druck des alten Papenbrock. Papenbrock hatte überdies zuwegegebracht, daß des Bürgermeisters Entbindung vom Amt in einen privaten Wunsch umgeschrieben wurde. Jetzt schickte Erdamer seine Tochter ohne Hut und Mantel auf die Straße hinter Papenbrocks Schwiegersohn her. Der wollte nichts mehr auf Rechnung seines Schwiegervaters; oder nicht dies.
Papenbrock wurde ja nicht gefragt. Auf den Gütern, gelegentlich in den Ämtern von Schwerin, mußte er seine Wünsche erklären, und sei es nur zur Sicherheit. In Jerichow nicht. In Jerichow genügte es noch, daß er es so haben wollte. Also wurde er nicht genau verstanden. Er hatte eine Ungehörigkeit verhindern wollen, weil sie einen Beamten, Studierten, eine Person seines Standes getroffen hätte. Was Maass, Böhnhase, Pahl, Methfessel, Handel und Handwerk anging, so hatte Papenbrock »einen Riegel vorgeschoben«. Wenn er rechtliches Benehmen verlangte, wem konnte das mehr gelten als seinem Sohn, Söhner? Es paßte zu allen Geschichten, in denen Papenbrock seinen Sprößling mit dem bloßen Daumen niedergehalten haben sollte; mochte auch Keiner dabeigewesen sein. Nicht nur hatte Papenbrock weder ein Wort noch ein Stück Eigentum an Horsts S. A. ausgeliehen, er war auch mit seiner Deutschnationalen Volkspartei in der neuen Regierung. Papenbrock hatte unverändert etwas zu sagen, und wen immer sein Sohn im Amtsgericht Gneez eingeliefert hatte, womöglich hatte der Alte für die rasche Freilassung gesorgt, bei dem Zollassistenten Sass, der den neuen Reichskanzler beleidigt haben sollte, wie bei dem kommunistischen Schneidergesellen, in dessen Kammer eine Uniform der S. A. gefunden worden war. Und als die mecklenburgische Landesregierung die Beflaggung aller Dienstgebäude mit Schwarzweißrot und Hakenkreuz vom 13. bis 15. März angeordnet hatte, wer hatte dafür gesorgt, daß neben den beiden auch die bloß zugelassene (nicht etwa vorgeschriebene) Fahne des Landes Mecklenburg aufgezogen wurde, und zwar in gleicher Höhe? Papenbrock. Wer hatte bei Pahl drei weitere Fahnen in den Farben Blau-Weiß-Rot bestellt, nämlich die Landesflagge, und nicht bloß die historischen Farben des Landes Blau-Gelb-Rot? Papenbrock. Er hatte zwar nicht sagen wollen, wozu, aber es war so gut wie sein Wort, daß das Land Mecklenburg-Schwerin auch noch diese siebente Reichsregierung binnen eines Jahres überstehen würde. Da kam nun Papenbrocks Schwiegersohn, offenbar um sich zu verabschieden. Nicht nur bedeutete er keine Konkurrenz im Geschäft, er hatte sich auch nicht mit seinem Schwager gezeigt. Dem Mann geben wir einen Schnaps, und Glück auf die Reise.
Dr. Semig war unterwegs. An die Tür kam Dora Semig, geborene Köster aus Schwerin, ihrem Mann so ähnlich, daß ihr Anblick den ihres Mannes gleich mit vor Augen brachte, beide groß gewachsen, schmal und fest am ganzen Leibe, mit etwas steifen, trockenhäutigen Gesichtern, die doch zu ganz behenden, weichen, freundlichen Bewegungen imstande waren. So kannte er Semigs Frau. Heute hielt sie ihre Lippen streng zusammen, hielt ihre Augen starr, verweigerte die Begrüßung, auch nachdem sie Cresspahl erkannt hatte. Er stand eine Stufe tiefer als sie. Sie hielt die Tür fest. Sie schien nicht ängstlich, eher feindselig. In der Nacht zum 13. März, um 2 Uhr, hatte es bei dem jüdischen Rechtsanwalt Dr. Spiegel in Kiel geklingelt. Auf die Rufe »Polizei! Polizei!« hatte Frau Spiegel geöffnet. Die Rufer waren nicht von der Polizei, und töteten Dr. Spiegel durch einen Schuß in die Schläfe. Nun hatte das Dienstmädchen von Semigs gekündigt. Dora Semig war mit Dienstmädchen aufgezogen worden. Sie hatte noch kein Mal selbst an die Tür kommen müssen. Sie war so mürrisch, daß Cresspahl ihr nicht völlig glaubte. Er trat einen halben Schritt zurück, um auf den Hof zu schielen. Semigs Kutschwagen war nicht auf dem Hof. Jetzt hatte Cresspahl Dora zum Lachen gebracht. Es fing klein an, gegen ihren Willen. Dann gingen ihr die Lippen in der Mitte ein wenig auf. Dann fingen ihre Augenwinkel das Kriechen an.
Dann lachte sie. Sie war nicht einmal gekränkt, als Cresspahl zum Warten auf Semig nicht Zeit haben wollte.
Er war bei vielen, er war auch bei Wulff.
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