Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Geschäften über die Juden herzog. Sie betete, daß sie keine Worte mehr brauchen mußte mit Cresspahl und daß er sie wieder unausgesprochen verstehen werde. Sie betete um Hilfe, daß sie zu tun fertigbrachte, was sie doch tun wollte.
Und daß du lebst, Gesine.
Darauf, denkst du, weiß ich keine Antwort. Ich wüßte schon. Ich sage es nicht.
Hätte sie den fremden Pastor Brüshaver nur besser gekannt, sie hätte zu ihm gehen mögen und ausdrücklich fragen, ob die Kirche ausreichend Unrecht erkannte für ein Leben in einem anderen Land. Dann hätte sie sich selbst gezwungen, zu denken: Brüshaver sagt auch. Aber Brüshaver predigte in diesen Wochen viel über die Pflichten des Christen gegen andere wie sich selbst; sie fand da nicht Fingerzeige. Zu Methling wäre sie gegangen, Methling aber hatte sich mit der neuen Regierung verbündet. Es war ihr zu schwierig, Methling und die Kirche auseinanderzudenken.
Sie meinte nicht Unrecht im bürgerlichen Sinne. Da mochte selbst Papenbrock ziellos in seinem Haus wandern und vor sich hin etwas brummeln von Bankrotteuren, die sich an anderer Leute Gut bereichern; jenes Unrecht war von der Obrigkeit, also rechtens. Sie meinte die Ungerechtigkeit, was die Vorschriften der Bibel untersagten und mit Strafe belegten.
Und Cresspahl war so im Vorteil! In einer Meinung nach der anderen über die Nazis hatte er recht bekommen, wenn auch nicht in der, daß sie einen Krieg machen würden. Da war er einfach albern, an dem Militärischen im Namen der neuen Gewerkschaft Arbeitsfront zu mäkeln. Es war nur, daß Cresspahl das Unrecht in seinem England verpassen wollte, bloß um keine Schuld abzukriegen. War das nicht selbstsüchtig? Durfte Einer aus seinem eigenen Land weggehen, bloß um in Sicherheit zu leben? Wie hätte sie ihm das schreiben sollen.
Mitunter gelang es ihr, eine Einbildung von Wut auf Cresspahl aufzuputschen. Wenn sie anderen Männern mit ihren Wünschen gekommen war, mit möglichen oder ausgesucht undenkbaren, hatte sie immer gleich wählen sollen zwischen dem Verzicht auf den Wunsch oder auf die weitere Gesellschaft der Herren. Als sie dem aufgeregten Herbert Wehmke mit seinen achtzehn Jahren die Bedingung machte, sie doch einfach aus dem zweiten Stock von Papenbrocks Haus zu entführen, hatte sie gewußt, daß er abgehen würde, Funken sprühend. Auch von Cresspahl hatte sie etwas verlangt, was er nicht leicht machen konnte, Cresspahl aber hatte ihr zugehört und sie an ihren eigenen Wünschen hineingezogen in eine Lage, an der sie ihren Teil hatte. Er nahm einfach nicht die Verantwortung für sich allein. Das mochte Respekt vor ihrer Person sein; das war von ihr zu viel verlangt. Cresspahl wollte von ihr nicht mehr und nicht weniger, als daß sie ihren Gründen sämtlich den Hals umdrehte und mit dem Kind nach England kam. Manchmal schien es ihr möglich, und nicht einmal das Gerede der Jerichower hätte sie zurückhalten können; dann wieder fiel ihr ein, daß sie sich damit etwas von ihrem Stolz vergab.
Jawohl war die Trennung bis zum November abgemacht; sie selbst hatte darauf bestanden, damit auch sie Opfer vorzuweisen hatte. Es war aber ein Anderes, daß Cresspahl tatsächlich nicht inzwischen einmal kam. Es mochte wirtschaftlich sein und was nicht alles; für starrsinnig galt es ihr doch. Ende Juni hatte Papenbrock sich angewöhnt, zu beliebigen Gelegenheiten den Kopf zu schütteln und zu sagen: Nè. Bei den ersten Malen hatte er damit das ganze Gespräch am Eßtisch unterbrochen. Dann begriff seine Familie, daß er nur für sich seine Gedanken zusammenfaßte. Denn Papenbrock war nicht mehr an der Macht beteiligt. Die Büros der Deutschnationalen Volkspartei waren genau so von Polizei besetzt und durchsucht worden wie die der Kommunisten und Sozialdemokraten; am 21. Juni löste sie sich selbst auf, am 29. schied Hugenberg aus der Regierung aus. Papenbrocks Selbstgespräche, sein abwesendes Gehabe machten Louise sehr besorgt. Sie versuchte, mit ihm zu schimpfen, in einer längst verlernten scherzhaften Art, und sie saß ganz starr da, als der Alte unverhofft hinter ihrem Stuhl stehen blieb und ihr die Hand auf die Schulter legte und die Hand da ein bißchen hin und her bewegte. Er sah ins Leere, er kümmerte sich nicht um die anderen am Tisch. Die Geste hatte nicht nur die gewohnte Nachsicht bedeutet. Sie hatte geradezu zärtlich ausgesehen.
In den ersten Tagen des Juli wurde Papenbrock aus Schwerin angerufen. In Berlin, in der Dahme nahe der Grünauer
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