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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Fähre waren mehrere Säcke mit Toten angeschwemmt worden. In einem der Säcke war ein Mann namens Johannes Stelling gewesen, totgeschlagen. Johannes Stelling war früher Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin gewesen.
    Papenbrock sagte nicht zu, an der heimlichen Trauerfeier für Stelling teilzunehmen; Papenbrock holte seine Kinder von der Straße.
    Mittags kam Horst Papenbrock zum Essen, und in der Diele stand sein gepackter Koffer. Horst wurde ins Kontor befohlen. Papenbrock schrie ihn eine halbe Stunde lang an, nur zur Vorsorge. Am Nachmittag war Horst auf dem Wege nach Hamburg und Brasilien. Er hatte sich nicht stark gewehrt. Beim Abschied von der Familie hatte er ein sonderbar erleichtertes Wesen gezeigt.
    Lisbeth wäre es recht gewesen, hätte Papenbrock ihr befohlen, nach England abzureisen. Aber Papenbrock merkte sich nicht jene Wünsche, die er seinen Töchtern bereits erfüllt hatte. Lisbeth hatte es, wie sie sich das ausgedacht hatte. Und er dachte nicht daran, Cresspahl in etwas hineinzureden.
    Blieb noch Hilde. Vorläufig gehörte Hilde in dieses Haus. Sie war zu leichtsinnig für diese Zeiten, und Alexander Paepcke sollte erst einmal etwas Solides vorweisen, ehe er sie hier wieder abholen durfte. Am späten Nachmittag hatte Papenbrock mit Krakow telefoniert, am nächsten Morgen war Hilde in Jerichow.
    – Liernt n ümme wat tau: sagte Papenbrock etwas geniert beim Frühstücken mit seinen beiden Töchtern. Es war ihm nicht ganz willkommen, daß seine Kinder lieber Befehle bekamen als selber entschieden. Er war aber zufrieden, es nun wenigstens zu wissen, und wollte es annehmen, da es zu den Kindern gehörte. Er hielt es für eine ihrer Eigenschaften; er kam nicht darauf, daß er sie dazu erzogen hatte.
    »Hilde und ich und das Kind waren in Rande baden«: schrieb Lisbeth Cresspahl nach England an ihren Mann. »In Rande haben die Arbeitslosen den Strand neu aufschütten müssen, es ist jetzt fast wie in Travemünde …«: schrieb sie.

26. November, 1967 Sonntag
    Gestern morgen ging James Looby, 22 Jahre, ein Student aus Bayonne in New Jersey, in unserer Gegend spazieren. Auf der Amsterdam Avenue, an der 70. Straße, wurde er von drei Jungen um Zigaretten angegangen. Er war Nichtraucher und konnte ihnen keine geben. Dafür bekam er ein sechszölliges Messer in den Bauch. Er hatte Lehrer werden wollen.
    Heute morgen beginnt die Ubahn acht ihrer 36 Routen anders zu fahren, und Marie ist seit dem frühen Vormittag unterwegs, um die neuen Kodes und Linienführungen wenigstens in Manhattan nachzuprüfen. Anders als mit der South Ferry, mit der Subway hat sie kaum Umstände gemacht. Sie erzählte nie von Ubahnträumen, in ihren Briefen nach Düsseldorf kamen die grauen Züge nicht vor, nicht einmal in den Bleistiftzeichnungen von 1962. Als sie vorhin aus dem Haus ging, war ihr nicht Vorfreude anzumerken, eher der Gleichmut jener New Yorker, die morgen die Ubahn für die Benutzung der Stadt benötigen werden und lieber heute sich für die Änderungen trainieren. Es mag auch Stolz auf die Besonderheiten New Yorks dabei sein, ein Anspruch auf den Besitz der Stadt. Einmal, so hat sie sich vorgenommen, wird sie mit jener einzigen Zeichenmünze, die man braucht für den Eintritt in das Liniennetz, alle Strecken abfahren, alle 381 Kilometer, alle 482 Stationen, Tag und Nacht, »wenn ich den Mumm aufbringen werde«; auch dies ein Zeitpunkt, den zu bestimmen sie für sich vorbehält.
    Als wir vor sechs Jahren hier ankamen, waren ihre Erfahrungen mit der westberliner Ubahn ungefähr genug, daß sie ohne Erstaunen mitging unter die Straße; ungefähr genug auch, daß sie sich bei den Unterschieden nicht aufhielt. Hier scheinen die Bahnsteige, oft an beiden Seiten von Expreß- und Lokalzügen bedient, anfangs viel schmaler als die europäischen, so daß der Neuankömmling in lächerlicher Furcht vor einem Absturz gern sich in der Mitte aufhält. Hier sind die Stationen wie gewohnt an den Seiten mit Fliesenwänden zugemauert, aber zwischen den Gleisen, und seien sie gegenläufig, stehen Stahlträger gereiht, dicht und nicht dick unter die Decke gestemmt, die gleich schwerer zu drücken scheint. Hier waren die Bahnsteige leerer; nicht nur fehlen die Häuschen für die Abfertiger, und damit ihre Anwesenheit, auch die Stadtpläne, und sogar der Plan der Zugfolge, so daß der Verkehr der Bahn in ein unermeßliches Belieben gestellt schien und das Warten auf den Zug ein Unternehmen ohne Garantie. Darum kümmerte sich

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