Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Kinder verpassen Unterricht, wenngleich die Forderungen der Lehrer, insbesondere nach kleineren Klassen und höherem Gehalt …
– Und wie bist du mit ihr ausgekommen? sagt der Chef, mit einem Kopfschwenken auf Mrs. Cresspahl. Sie war in Ordnung: sagt Arthur, und Mrs. Cresspahl erwischt einen Blick lang seine Augen im Rückspiegel. Er zeigt ihr kein Zwinkern, nur einen winzigen, beruhigenden Aufschlag der Lider.
Ich hätte wissen sollen, daß der Chef dir den Arm um die Schultern legt, dir die Tür aufhält, dich einen Platz aussuchen läßt. Gesine, oder wie immer du heißt.
In Ordnung, Arthur. Und fahr zur Hölle, Arthur.
13. September, 1967 Mittwoch
Die New York Times illustriert die Erinnerungen der Swetlana Stalina mit einer Fotografie von 1941, die zeigt das Kind, zu schwer für seine 15 Jahre, in einer weißen Bluse mit zwei verschlungenen S, vor der Kühlerhaube einer imposanten SIS -Limousine, des »Familienwagens«. 1942, berichtet die ungeratene Tochter: wurden eine Menge Leute in Lagern erschossen … habe keine Ahnung warum dies geschah …
Und noch eine Nachricht aus der unterhaltenden Industrie: Sonntagnacht wurde Frank Sinatra frech gegen einen Arbeitgeber und wurde zu Boden geschlagen und verlor auch zwei Zähne …
Der Bundesrichter Dudley B. Bonsal hat der Ubahn auferlegt, auch kriegsfeindliche Plakate als Anschlag zu dulden; wegen des 14. Verfassungszusatzes.
Gesines zehn Tage am Atlantik sind jetzt zugedeckt von drei Wochen in der Stadt, und die Verhaltensweisen der Angestellten sitzen ihr wiederum dicht auf der Haut. Wiederum rückt sie die Zeit ihrer Uhren um fünf Minuten vor, um einer Verspätung im Büro vorzubeugen. Diese fünf Minuten verschweigt sie sich beim Einschlafen wie beim Aufstehen, erst bei Verspätungen der Ubahn vertraut sie wissentlich auf die Reserve. Aus den einzelnen Betriebsstörungen der Bahn macht sie eine negative Regel, um den Weg zur Arbeit von Grund auf zu schützen gegen Einbußen an Zeit, und im Gedächtnis spart sie weiterhin solche Minuten unter fünf, die bei einem vorzeitigen Ende des Frühstücks abfallen, oder sie zweifelt am Gang der Uhr. Sie überwacht die deponierte Zeit nach den Ansagen der Rundfunksender, verheimlicht sie sich gleichzeitig in einem Mißtrauen gegen die Lässigkeit der Sprecher:
Leute, wenn ihr um halb aus dem Haus sein wolltet, seid ihr jetzt erst sieben Minuten verspätet!
Außer dem versucht sie, ihren Erfahrungswert von fünfunddreißig Minuten zwischen Wohnung und Schreibmaschine durch eiliges Umsteigen und durch waghalsige Ausdeutung der Ampelzeichen zu vermindern, ohne allerdings den Gewinn zu ihren eigenen Gunsten auf dem Zifferblatt anzulegen. Die angesammelte Rücklage schickt sie gelegentlich schon um zehn nach acht weg von der Oberen Westseite, bringt sie oft um halb neun vorbei unter der ungefügen Uhr im Bahnhof Grand Central
Dies ist die Uhr, die Amerika aufweckt!
und nicht selten war sie um dreiviertel neun an der elektrischen Normaluhr im Büro, deren spinnenbeiniger Sekundenzeiger am Spielraum hobelt. In der gewonnenen Viertelstunde könnte sie die Zeitung auffalten, aber es käme ihr kleinlich vor, pünktlich um neun Uhr null Sekunden anzufangen, und sie greift doch in den Eingangskasten. Auf das Tempo der Arbeit wirkt die hamsterische Zeitmessung nicht, denn ihr werden Vorgänge nach Vorrat und Anfall zugeteilt; es gibt auch halbe Stunden, in denen die Angestellte Cresspahl Lexika liest, arbeitsam vorgebeugt, bei offener Tür … Erst zehn Minuten vor fünf beginnt sie ihre gehorteten Minuten an die gewöhnliche Zeit zu erstatten. Dabei verliert sie leicht eine oder zwei von den wirklichen Zeiteinheiten, so daß sie meist erst vierzig Minuten nach fünf Uhr vor der Tür ihrer Wohnung steht. Diesen Unterschied von einem Zwölftel Stunde hält sie aber für echten Verlust, da muß Marie noch gar nicht gewartet haben.
Die Geschäftsführung hat keine Stechuhren aufgestellt, und in den regelmäßigen Mitteilungen an das Personal kommt das Wort Pünktlichkeit nicht vor. Gesine ist dieser besonderen Firma nicht mehr ergeben als früheren Arbeitgebern. Es reicht ihr nicht zu einem schlechten Gewissen, wenn sie sich morgens um zwei Minuten verspätet. Die verfrühte Ankunft kann ihr als Beflissenheit, ja als Streberei ausgelegt werden, und doch nicht vermag sie das Jonglieren mit der erfundenen Zeit aufzugeben. Sie kann sich auf sonst nichts verlassen. Sie läßt sich aufziehen von Mrs. Williams mit der
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