Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
teutonischen Tugend der Promptheit, sie läßt D. E. schwafeln von traumatischen Schulstrafen für Verspätung. Sie hat nur diesen Scheck, der zu Ende und zu Mitte des Monats in einem verschlossenen Umschlag mit der Hauspost kommt, achttausend Dollar im Jahr, Steuernachzahlungen noch nicht gerechnet; der Scheck ist nichts gegen eine Gewerkschaft der Angestellten, die streiken könnte wie die Arbeiter gegen Ford, die Eisenbahner gegen die Long Island Railroad, die Lehrer gegen die Stadt. Ihr kann alle vierzehn Tage gekündigt werden, und sie hat nur fünf Monatsgehälter auf einem Sparkonto, damit sie Maries Schule bis zur nächsten Anstellung bezahlen kann. Sie will keine Versicherung versäumen, nicht einmal die rechtzeitige Anwesenheit am Arbeitsplatz, die optische Präsenz.
Und vertrauliche Überstunden in den Waldorf Astoria Towers … dreißig Meter hoch über der abendlichen, verlassenen Lexington Avenue, dreißig Meter im Freien über den angetrunkenen Herren, verirrten Touristen, königlich patrouillierenden Taxis im stinkenden Kanal der Straße … in der stockigen Luft der Klimamaschinen, Luft aus Großmutterschubladen, Schubladen voll Kuriosa und Preziosen … Überstunden für den Vizepräsidenten de Rosny der in seine Suite geleitet wird als ein geliebter Fürst auf Durchreise, dem das Hotel eine Bar mit frischem Eis auffährt, einen zweiten Fernsehapparat, eine elektrische Schreibmaschine in einer Art fahrbaren Wiege … Überstunden für die Übersetzung eines Briefes aus Prag, in polnischem Französisch, über Nachtlokale, Schmalfilm, ein Mädchen namens Maria-Sofia, über Staatskredite auf Dollarbasis … Überstunden mit Cocktails … Überstunden mit Heimreise in einer schwarzen Kutsche, durch das rötliche Gegenlicht der westlichen vierziger Straßen, unter den Bogengüssen offener Hydranten, über die Schnellstraße der Westseite, hoch neben dem grauen dampfenden Hudson, dem in Dunst gewickelten Gegenufer, voran am gefegten geharkten Riverside Park, über der Erde … Stunden über die Arbeitszeit, über den Bedingungen gewöhnlicher Arbeit …?
Es war ein Ausflug. Es war lustig. Es war sonderbar. Es waren Überstunden, ohne Bezahlung.
14. September, 1967 Donnerstag
Lieut. Col. William Rockety, in einem Interview über die gestrigen Kämpfe bei Dongson, erwähnt einen Nordvietnamesen, der bis zu den amerikanischen Mörserstellungen vordrang und zwei Marineinfanteristen umbrachte, bevor er umgebracht wurde. »Ein Nordvietnamese«: sagt Lieut. Col. Rockety der New York Times: »war wirklich voller Mut - oder verrückt.«
Die Verschärfung des Krieges in Viet Nam hat in den letzten beiden Jahren in den U. S. A. mehr als eine Million Arbeitsplätze geschaffen, in fast allen Industriezweigen (ausgenommen Schiffswerften und Neubauten), fast ein Viertel des natürlichen Zuwachses an Arbeitsmöglichkeiten.
Wie weit war Cresspahl vom Ekel, als er Tag nach Tag im August 1931 in Jerichow vertat, ein gesunder Mensch als Müßiggänger mitten in der Ernte, blind vor Verstrickung in sein Bild von der jüngsten Tochter Papenbrocks, als sei sie für sein Leben die einzig Nötige?
Cresspahl muß sich geekelt haben vor der Wiederholung. Mit sechzehn Jahren ja, da konnte die Welt noch zugestellt werden von der Nähe, dem Atem, dem Blick, dem Hautgefühl, der Stimme eines Mädchens; mit sechzehn Jahren, ja da mögen ihm einmal die Absicht und der Plan und die Zukunft verhängt worden sein vom geduldigen, zuversichtlichen Verlangen nach einer Fünfzehnjährigen, die so sehr Ziel wurde, daß er in ihr nicht mehr die Enkelin des Meisters wahrnahm, nur noch die unausweichliche Notwendigkeit, das Vertrauen auf einen abgeblendeten Entwurf für das ganze kommende Leben: mit sechzehn Jahren, als Tischlerlehrling in Malchow am See, zu Anfang des Jahrhunderts; aber 1931, in Jerichow bei Gneez, mit 43 Jahren?
Ist nicht die Wiederholung unerträglich: daß immer wieder das Bedürfnis nach einer Person das Bewußtsein wie zum ersten Mal nach dem alten Raster preßt, daß längst ausgedachte Empfindung wiederkehrt wie frisch, daß die Vorstellung unermüdet von neuem die bloße Außenseite einer Person ausdeutet und ausbaut zu allen denkbaren Entsprechungen zwischen ihr und ihm, daß die Leerstellen in der wirklichen Person ungewarnt verdeckt werden von dem Bild der Person, daß der Herzschlag anzieht nur bei ihrem Anblick so lebensängstlich wie nur beim Anblick einer anderen Person schon vor fünf, vor zwölf, vor
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