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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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achtundzwanzig Jahren, als wäre hier unerhörte Wirklichkeit zu entdecken, noch nie Berührtes, noch nie Gefühltes? er muß sich vergessen haben.
    Stand, ein kräftiger Mann mit heilen Armen, verschlafen und freundlich auf dem Marktplatz neben der Stadtwaage, auf die Gutswagen nach Gutswagen zufuhr, ging an den heißen müden Pferden entlang, ließ die krumm im Schweiß hockenden Gespannführer hinter sich, als sei Arbeit zum Besichtigen da. Neben der Stadtwaage stand er nicht so nahe an Papenbrocks Haus, daß er wartend aussah, aber nahe genug, um einen Fensterflügel aufklappen zu sehen.
    Fuhr, harmlos wie ein Badegast, spazieren im Kutschwagen des Tierarztes, vorbei an den im Sommerweg mahlenden Erntewagen, ein Landschaftsbetrachter, ein Sommerfrischler, der unverdrossen beiläufig die Rede auf den hiesigen Kornhandel brachte und aus allen Äußerungen Dr. Semigs über Papenbrocks Geschäftssinn nur hörte: Sie werden Glück haben mit dem Mädchen, Cresspahl. Glück werden Sie haben.
    Ging, ein Nichtstuer in Schlips und Kragen, vorbei an den Schnitterkolonnen auf den hitzigen Kornfeldern, weg vom schwer pulsierenden Lärm der Dreschautomaten, wie zur Erholung unter dem harten gespannten Himmel auf den Wegen um Jerichow, von Schloß zu Schloß, von der Steilküste bis zum Gräfinnenwald, rund um das Bruch, in allen Straßen der Stadt, nur weil Papenbrocks Tochter hier aufgewachsen war: hier wollte er kennen, was sie aufgeben mußte.
    Setzte sich, ein Forschungsreisender, in die Bahnhofswirtschaft, das Lokal der Nazis, und trank das saure Bier und wartete auf Horst Papenbrock bis zum dritten Abend und ließ ihn lärmen über den Dawes-Plan und die Reichstagswahl vom vorigen September und trank ihm vor, halbe Liter Kniesenack und großen Weizenkorn, und trug den taumelnden, fröhlichen, weinerlichen Erben Papenbrock über den Marktplatz um Mitternacht und lehnte ihn gegen das Tor seines Vaters und ging in Peter Wulffs Hinterzimmer zum Erzählen, wenig betrunken, sehr vergnügt, ganz zufrieden.
    Reiste nach Hamburg auf einen Tag und kam zurück und zeigte sich bescheiden in einem englischen Hemd von Ladage & Oelke, in dunklem Anzug und ohne Hut auf dem Weg zu Papenbrocks Haus und Kontor; hatte den Leuten in Jerichow Wochen lang Spaß gemacht mit seiner Liebschaft und hatte den Kopf voll von dem Geheimnis, das zwischen ihm und Lisbeth Papenbrock eingerichtet war, für niemand zu sehen als für sie und ihn.
    Ein Protestant. Protestanten.
    Muß einer auch Geld haben, wenn er soviel Zeit aufbringt für sein Gemüt.
    Mit Nazis. Säuft mit einem Nazi.
    Ja gesundstoßen will er sich nicht.
    Du hast den Mut nicht. Du machst dich nicht lächerlich vor zweitausend Leuten.
    Das stellt er sich vom Leben vor: ein frommes Mädchen.
    Ja dich hat sie nicht genommen, Stoffregen.
    Die kommt nicht wieder. Die geht mit ihm wohin er sagt. Sie hat ihn schon an der Hand gefaßt, wenn sie eben vom Markt in die Feldstraße kamen.
    Die lagen im Wald. Er hat mich auf dem Rad nich vorbeifahren hören, und sie hatte die Augen offen.
    Auf den Rehbergen. Wo du einen Streifen See siehst, zum Steilufer hin.
    Eine hat ihn gewarnt. Meta Wulff setzte sich nach der Polizeistunde zu Peter und Cresspahl und fing an zu reden von Pastor Methling und von Lisbeth, die an jedem Kirchtag in der zweiten Reihe unter der Kanzel saß. Wulff versuchte sie mit Knurren aufzuhalten, aber Meta, Fischerstochter von der Dievenow, gab ihm einen Schlag unter die Schulterblätter und rieb ihm den Rücken und sprach weiter von den Bibelstunden für Kinder, die Papenbrocks Tochter über die Christenpflicht hinaus im Gemeindehaus abhielt. Cresspahl hat nicht mehr verstanden als: sie kann auch noch gut mit Kindern.
    Unter dem weiten Rock der Tante Times sitzt Stalins Tochter und erklärt den Selbstmord ihrer Mutter im Jahr 1932: »In jener Zeit waren die Menschen ein Stück ehrlicher und gefühlstreuer. Wenn ihnen das Leben nicht gefiel wie es war, erschossen sie sich. Wer tut dergleichen heutzutage?«
    Er hat sich vergessen.

15. September, 1967 Freitag
    Dieser Sommer ist vorüber.
    In der letzten Woche sind in Viet Nam 2376 Menschen beruflich am Krieg gestorben. Gestern bestritten die Sowjets, daß sie einen ihrer Schriftsteller im Arbeitslager mißhandeln. Die Lehrer der öffentlichen Schulen streiken weiter. Südkorea will einen Zaun aus Draht und Elektronik an seiner Nordgrenze errichten. Jan Szymczak aus Brooklyn ist die Frau weggelaufen, die erst im Februar aus Polen

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