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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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geschickt hast: sagte er sinnend, knetete seinen Nacken. - Der das Zeichen mit den beiden Mantelknöpfen wußte: sagte er, seitwärts neben Cresspahl blickend, von dem er hier Hilfestellung nicht erwarten konnte. Und Gerda warf einen ganz unbedachten Blick auf Cresspahl, der ihr bisher ein deutlich befremdetes Benehmen gezeigt hatte, und beide begriffen gleichzeitig, daß gestern wirklich jemand verloren gegangen war, der das Zeichen auch als ein Zeichen gekannt hatte. - Dor sitt ein’: sagte sie, den Ellenbogen gegen Cresspahl gewinkelt. Sie sahen beide zu, wie auf Erwins Gesicht das Entzücken gegen die andere Erkenntnis verteidigt wurde. Dann sagte er zögernd: Nu sup’ck mi dål.
    An diesem Morgen, Freitag den dritten März 1933, wurde Gesine Cresspahl in Jerichow geboren.

21. Oktober, 1967 Sonnabend
    Ein westlicher Korrespondent beobachtete am Dienstag im Gebiet von Haiphong (Viet Nam) drei Luftangriffe, sieben Bomberwellen, zahlreiche Einzelflüge der Amerikaner und weitere acht Luftalarme; der Tag wurde ihm als normal beschrieben. Zehntausende Chinesen arbeiten an der Wiederherstellung der Gleise und Straßen zu ihrem eigenen Land. Die New York Times übermittelt ausführlich die Pläne und möglichen Marschrouten der heutigen Demonstration in Washington; zum Beispiel soll das Pentagon besetzt werden; Protestaktionen werden erwartet in London, Paris, Rom, Stockholm, Bonn und Kopenhagen. In Mississippi wurden sieben Weiße für schuldig befunden an dem Mord von drei jungen Bürgerrechtlern im Jahre 1964, darunter Cecil R. Price, Hauptuntersheriff, der die Opfer im Gefängnis von Meridian festhielt, bis der Ku Klux Klan seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, dann sie freiließ, auf der Landstraße wieder einfing und der Bande der Lyncher übergab, in der er selbst mitwirkte (die Toten wurden im Deich eines Teichs gefunden, begraben vermittels eines Bulldozers). Fünf der Überführten sind frei und können ihre Lebensläufe nachlesen auf Seite 18 der New York Times.
    Sonnabend, Tag der South Ferry
    – Cresspahl, dein Vater, mein Großvater: sagt Marie: kam also erst am Nachmittag zu dir nach Jerichow, am 3. März 1933.
    – Gegen Nachmittag, als der Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands Ernst Thälmann sich finden und verhaften ließ in einem kleinen Zimmer an der Lützowstraße in Berlin. Und er hatte keine Fahrkarte nach Dänemark bei sich.
    – Und Cresspahl war nicht betrunken.
    – Nicht sichtbarlich. Er hatte Erwin Plath in Lübeck nicht nur über den Vormittag geholfen, sondern auch über eine Literflasche Doppelkümmel und einen halben Kasten Bier, und Gerda Plath wollte ihn erst gehen lassen, nachdem er ihrem Kaffee die Ehre gegeben hatte. Sie wollte jener Frau Cresspahl einen nüchternen Mann schicken. Der da in Jerichow ankam, die Bahnhofstraße entlang und unter den ersten sechzehn Fenstern Papenbrocks, aufrecht und etwas langsam, war ein Betrunkener so hellwach du denken kannst.
    – Demzufolge freundlich: sagt Marie.
    – Ein Blinder, der alles sah, ohne es behalten zu können. Ein Tauber, der eine Katze laufen hörte, ohne das Geräusch zu begreifen. Jerichow kam ihm sehr laut vor. Auf dem Marktplatz war Musik. Auf dem Marktplatz waren mehr Leute als er Einwohner wußte. Papenbrocks Tür zum Markt war verschlossen.
    – Cresspahl konnte nichts wissen.
    – Ihm war, als hätte er im Zug das Gneezer Tageblatt gelesen. Ihm war, als sei da keine Geburt für Cresspahl angezeigt gewesen. Er ging in die Bahnhofstraße zurück und fand Papenbrocks Tor in der hohen Ziegelmauer und eine Tür ins Haus. In dem warmen Korridor, hinter all den braunen Türen war es still. Die Stille schlug über ihm zusammen und machte ihm die Ohren dröhnen wie unter Wasser.
    – Solche Zustände gibt D. E. zu?
    – Er fand seine Frau nicht auf dem oberen Flur, wo Papenbrock die Zimmer seiner Kinder eingerichtet hatte. Er tapste wieder nach unten zur Haupttür und setzte auf dem Vorplatz seine Tasche mitten in den Weg. Die Tasche sollte für ihn sagen: Es war eine Reise. Auf Reisen kommen Verspätungen vor.
    – In solchen Familien gab es einen Nachmittagsschlaf: sagt Marie.
    – Lisbeth schlief in ihren Haaren in dem Zimmer oberhalb von Papenbrocks Comptoir, das vor einer Woche noch ein Teezimmer gewesen war. Sie schlief sehr hoch aufgebettet, mit offenem Mund, mühsam atmend gegen die überheizte Luft, inmitten der hochmütigen Gesellschaftsmöbel aufgestellt wie zum Sterben.
    – Nun das Kind.
    – Das

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