Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Kind lag in einer Bauernwiege an der Wand zwischen den beiden Fenstern zum Markt. Das Kind war eingeklemmt und dick bepackt mit Federbetten. Das Kind schlief auf seinem rechten Ohr, zwischen zwei locker geballten Fäusten. Der Atem war zu sehen, aber nicht zu riechen. Das Kinn war noch sehr nach vorn geschoben, die Stirn stark zurückgedrückt unter den einzelnen dunklen Haaren. Es war ein gut ausgetragenes Kind, mit fertig gebildeten Fingernägeln, rötlich und blauer Haut und nur geringen Krähenfüßen neben den Augen.
– Das kannst du von dir nicht wissen: sagt Marie, als Feststellung, nicht im Protest.
– Ich weiß es von dir.
– Wir sind einander nicht ähnlich.
– Einmal, im Juli 1957, warst du mir ähnlich.
– Es wäre mir lieber, du erzähltest davon als sei es dir erzählt worden: sagt Marie.
– Mir ist erzählt worden, daß Cresspahl gar nicht auffiel. Unverhofft war das Haus wach und schickte einen Abgesandten nach dem anderen zu den beiden Schlafenden. Da kam Mudding Laabs, Kreishebamme. Da kam Louise Papenbrock mit Wärmflaschen für das Kind. Da kam die Dienerschaft, Köchin, Hausmädchen, Kutscher, Knechte, zum Gratulieren. Edith brachte ihre beiden Kinder mit und bewies ihnen, daß das neue vom Storch gebracht war, denn am Fuß der Wiege hatte er zusätzlich lübecker Marzipan in zwei Tüten aus Goldpapier hinterlassen. Ausgerechnet Edith. Da kam Albert Papenbrock als Großvater auf Strümpfen und brachte auf dem Sonntagstablett den Tee, wie Lisbeth ihn in Richmond gelernt hatte. Für den Kerl am nördlichen Fenster hatten die nicht viel Verwendung. Louise Papenbrock nickte ihm befriedigt und herrschsüchtig zu, die hatte ihre Rache aufgeschoben. Den Leuten aus dem Stall und vom Lagerboden kam er angemessen entgeistert vor. Ediths Kinder knicksten und sahen ihm gerade in die Augen, bis er Sixpence herausrückte. Albert als Einziger nahm ihn um die Schultern und sagte ihm etwas in glucksenden Tönen, vielleicht versuchte er zu lachen, und zog ihn fast zärtlich ins Nebenzimmer und setzte ihn vor eine Flasche Rotspon und trank auch ein Glas, immer noch mit verrutschter Miene, wie ein trostbedürftiges Kind. Aber vorher kam noch Doktor Berling und schlug Cresspahl auf die Schulter.
Na, alter Schwede. Viel Mühe haben Sie ja nicht aufgewandt. Ein Junge ist es nicht.
Wann kann sie reisen.
Nach England?
Nach Hause.
Das entscheidet die Mutter. Fragen Sie sie mal in drei Wochen.
Nicht eher?
Ach was, alter Schwede. Was wollen Sie jetzt noch in England. Jetzt, wo Deutschland endlich wieder hochkommt.
Das sieht man nicht so von weitem.
– Und nun die Geschichte mit der Tassenwanne: sagt Marie.
– In der du gebadet wurdest, weil du so klein warst.
– Das war Louise Utecht, die so winzig ausgefallen war, und es war 1871 in der Hageböcker Straße in Güstrow. Das ist nicht meine Geschichte.
– Also, etwas aus dem ehelichen Leben.
– Cresspahl hatte einen Blick von seiner Frau erwischt, als er an ihrem Kopfende entlang ins Nebenzimmer ging, einen benommenen Blick, der aus Träumen kam. Ohnehin wollte er warten, bis sie allein war. Am Anfang machte der Rotwein ihn nur schläfrig. Eine Zeitlang konnte er nicht die Vorstellung loswerden, daß Horst Papenbrock in der Uniform der Sturmabteilungen Hitlers ihm zuprostete und ihm an nacheinander umgeknickten Fingern etwas vorzählte, wie ein vom Beweisen begeisterter Rechenlehrer. Dann schaffte er es, ihn zu vergessen, und an seine Stelle Meta Wulff zu denken. Mit Meta Wulff kam er in ganz argloses Reden, ihr erzählte er von der Nacht im Polizeigefängnis von Lübeck. Dr. Semig sah er bereits unzweifelhaft, nur war ihm bei dessen Anblick ein Ausruf entfahren, den er zurückzunehmen wünschte, könnte er ihn nur finden in irgend einer Ecke seines Gedächtnisses. Dann, nach der zweiten Flasche, hatte er sich nüchtern getrunken. Die nachmittägliche Musik auf dem Marktplatz, das war die S. A.-Standartenkapelle 162 aus Lübeck gewesen. Horst Papenbrocks Zahlen waren die Verhaftungen kommunistischer Funktionäre gewesen: in Rostock 27, in Schwerin und Wismar und Güstrow je 10, in Mecklenburg-Land 58. Der Lärm unter den Fenstern kam aus einem der Lautsprecher, die das Musikhaus Schmidt in der Stadtstraße und am Markt aufgestellt hatte, und übertrug die Hitlerrede aus Hamburg. Das flackernde Licht zwischen den Hausgiebeln kam von den Fackeln, mit denen S. A. und Stahlhelm ihre Uniformen auf dem Weg zum Schützenhaus beleuchteten, und der
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