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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Gesine unverhofft in einen Arm schloß, flüchtig aber nachdrücklich, so daß die Empfindung ihres Körpers von den Knien bis zu den Schultern ein paar Atemzüge lang haften blieb. (Frag mich nichts, Marie.) Mit Jason geht es ab ohne ein Wort, auch ohne Grimasse. Wo die Stahltreppe um den Fahrstuhlschacht offen ist gegen den Wartesaal des Hauspersonals, erschien Jason im Türrahmen, massig, schwarz, düster, finster, deckte für einen Augenblick den Lärm aus Radio und Fernsehgeräten ab, war weggetreten in die Dunkelheit hinter seinen Augen. (Prächtiger Morgen heute, Jason.) Die Mechaniker in der mittleren Garage sind warm genug, sie rufen, sie begrüßen Mrs. Cresspahl als ihre Schwester, einer pfeift. (Ich trag meine Röcke so kurz sie mir passen.) An der Ecke zur 96. zur West End Avenue ist der Funkwagen vorgefahren und setzt den Polizisten ab, der hier allfünfmorgendlich den Weg der Kinder zur Schule Emily Dickinson überwacht. Während er in die Mitte der Kreuzung schreitet, zieht er mit festen Griffen seine weißen Handschuhe über und mustert die Passanten auf dem Bürgersteig, die geniert und ärgerlich für dies Mal die Ampelzeichen beachten müssen. (Jawohl, Herr Wachtmeister.) Hinter dem Schaufenster seines Guten Eßgeschäfts steht Charlie baumstill, hält den steilen Kopf mit der grauen Bürste darauf blicklos gegen den Broadway und kümmert sich nicht um seine Hände, die einen Hamburger auf die Schippe nehmen. In der Ecke des Schaufensters steht eine gedruckte Karte mit Fettflecken, die Charlies Küche den Kunden eines westdeutschen Reisebüros empfiehlt. (Was sagen denn die Juden in dem Büro über dir dazu, Charlie?) Der alte Mann am Zeitungenstand hat die Hände in seiner Beutelschürze und beobachtet diese Kundin beim Tausch von Papier gegen Münze so aufmerksam, als wollte er ihr auf den Mund blicken. (Heute hab einmal ich vergessen, wie man Guten Morgen sagt.) Das war nicht leicht. Fast wäre sie zurückgegangen, um ihn mit einer Bemerkung über das Wetter zu versöhnen. (Mein Herr, ist DER SPIEGEL schon geliefert?) Auf der stinkenden Treppe in die Ubahn tritt eine Frau wie geträumt aus der Wand, solide und kleinbürgerlich gekleidet, zu langweilig für die männlichen Fahrgäste, und sie sagt: Liebe, Süße, hast du nichn Zehner für mich. (Ich könnte dir n prima Gedicht von Brecht empfehlen, du wildgewordene Hausfrau.) Der Expreß A ist heute dicht gestopft mit Menschen und wird von Minute zu Minute enger unter dem gedankenlos fließenden Monolog eines dunkelhäutigen Herrn, der mit heiser schleifender Stimme gegen die Decke spricht, den Kopf im Nacken wie ein Ertrinkender: Sie wolln dn Nege bstechn! Sie haben vor und im Sinn und planen, dn Nege mt Sex zbestechn! (Wem sagen Sie das.) In der Halle des Bahnhofs Grand Central klappert eine würdige alte Dame in Spitzenbluse und schwarzem Schneiderkostüm die Rückgabefächer der Telefone nach vergessenen Münzen ab und fühlt sich betrachtet und fragt uns mit dem hüpfenden Akzent eines kostspieligen College nach dem Zug aus Montreal. (Rufen Sie die Auskunft an, Madame.) Bei Sam müssen wir uns darauf verlassen, daß er unsere regelmäßige Bestellung auswendig weiß, und tatsächlich hindert der Andrang zu seiner Theke ihn, uns die fertige Tüte mit zusätzlichem Grußwechsel auszuhändigen; vielleicht hat sein Nicken, der trübe Blick abseits von seinem belfernden Mund nicht uns gegolten. (Hei, Sam. Tee Zitrone. Danke Sam. Schufte nicht so, Sam. Attjé, Sam.) So schaffen wir es schweigend zur ersten Fahrstuhlgasse, in den elften Stock, an den Mädchen im Schreibbereich vorbei, an die Arbeitsplatte, und nach zwei Stunden Schweigens vor der brummenden, hackenden Maschine richtet Amanda sich auf dem zweiten Stuhl ein, mit dampfendem Kaffee und brennender Zigarette ausgerüstet für einen längeren Besuch und will wissen, wie es uns geht. Sie besteht darauf, es zu erfahren. Nun ist das Spiel verloren. - Du siehst doch, daß ich strahle: sagt Mrs. Cresspahl.
    Die Demonstration in Washington ist inzwischen zubereitet für die Geschichte, nachzulesen in der Nachrichtenanalyse der New York Times. Wenn man ihr glaubt, haben alle verloren. Die Regierung ist traurig wegen ihres beschädigten Ansehens in den Augen des Auslands. Die Aktivisten der Demonstration sind traurig, weil sie nicht genug Leute gegen den Präsidenten auf ihre Seite bekommen haben. Die auf seine Person gezielten Schmähungen würden sein sinkendes Glück in den Wahllokalen wenden

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