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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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uns seine Erfahrungen verkaufen.
    Dich störte die Fahne des Viet Cong im Marschzug.
    Was geht mich der Viet Cong an. Ich brauche nichts als den Abzug der fremden Truppen aus Viet Nam.
    Unserer Truppen.
    Der fremden Truppen.
    Dich hätten die Schwaden von Marihuana von deinen Nachbarn her an der Sache zweifeln lassen.
    Wäre die Sache im Rausch deutlicher zu erkennen?
    Ein kleiner Fehler in der Schönheit der Tat, und du begehst sie nicht.
    Nicht nur die Tat käme wieder, auch der Fehler.
    Und daß du die Tat nicht behalten dürftest.
    Daß eine Ablehnung der nordamerikanischen Expansion in Asien umgedreht würde in eine Befürwortung der sowjetischen Expansion.
    Du quatschst wie eine gottverdammte Intellektuelle.
    Und ihr quatscht wie Leute, denen etwas zur Anwesenheit fehlt.
    Du warst schlicht bequem. Du mochtest da nicht hingehen als jemand über Dreißig. Du mochtest da nicht auffallen und angesehen werden unter Schülern, Studenten, lauter Jugendlichen.
    Mit wem hätte ich gehen sollen? Mit den Blumenkindern? Mit der Hochschule für Musik und Kunst von New York?
    Du wolltest nicht erkannt werden als eine Fremde.
    Tatsächlich wär mir gewesen, als müßt ich mich verkleiden.
    Du wärst einmal nicht für dich gewesen.
    Die schöne Vertraulichkeit am nächtlichen Feuer vor dem Pentagon, ich habe solch Vertrauen nicht mehr. Die Umzingelung durch Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, fachmännisch in der Hüfte abgestützt, sie hätte mich nicht reinfallen lassen auf Heldentum in der Gefahr. Der Geruch von Holzrauch und Tränengas in der Luft, er hätte mich nicht denken lassen an die wissenschaftlich vorhergesagten Leiden vor dem unausbleiblichen Sieg. Das gemeinsame Absingen von Down by the Riverside, schon beim Dabeisein wär mir die Aussicht auf Erinnerung daran nicht behaglich.
    Daß du dich nicht genieren mußt, weder jetzt noch später.
    Daß ich nur tu was ich im Gedächtnis ertrage.
    Dir wär schon peinlich gewesen, daß in der Nacht die Sperrböcke der Polizei in den Lagerfeuern verheizt wurden.
    Es war nicht gegangen um die Zerstörung von öffentlichem Eigentum. Das macht die Steuerzahler nicht empfänglicher für Friedensmärsche.
    Es sind auch deine Steuern, die in den Krieg geschickt werden.
    Soll ich besser Steuern zahlen für die afrikanischen Waffengeschäfte Großbritanniens, für die Militärindustrie Westdeutschlands, für die Besatzungskosten der Sowjetunion?
    Gestern, als du von der Fähre kamst, hast du die kleine Kundgebung im Battery Park nicht begriffen. Du hast nicht gewußt, warum so viele Autofahrer, auch die Chauffeure der städtischen Omnibusse, der Polizeistreifenwagen am hellichten Tage mit eingeschalteten Frontscheinwerfern oder Parklicht unterwegs waren.
    So sind sie auch durch die Stadt gefahren, um Trauer zu zeigen über den Tod von John F. Kennedy.
    Gestern taten sie es aus Solidarität mit dem Krieg der Nation in Viet Nam.
    Zugegeben, ich war vertrauensselig. Öwe dat’s’n Fele, de sick gift.
    Dat sä Edith ok.
    Dor kreech se dat fiewte Kint.
    Und es genügt dir, daß du die Vorfälle bei den gestrigen Demonstrationen hier und in der Welt erfährst aus der Zeitung? Damit läßt sich leben, statt mit Anwesenheit, Mitmachen, Eingreifen, Aktion?
    Es ist was mir übriggeblieben ist: Bescheid zu lernen. Wenigstens mit Kenntnis zu leben.
    Gesine, warum warst du gestern nicht bei der Demonstration in Washington?
    Das sage ich nicht.
    Uns kannst du es doch sagen.
    Nicht einmal im Gedanken.
    Es bleibt nur noch Eines.
    Solange ich es nicht fertigdenke, ist es nicht.
    Mrs. Ernest Hemingway hat sich beklagt bei der Times von London wegen der Veröffentlichung von Briefen, die ihr verstorbener Ehemann zwischen 1950 und 1956 an Adriana Ivancich schrieb, eine junge Frau, die sich ausgibt für das Modell der Person Renata, die Hemingway für seinen Roman »Über den Fluß und in die Wälder« erfand.
    Es gelang der New York Times am gestrigen Nachmittag nicht, das Modell, die jetzige Gräfin Rex, in Mailand am Telefon zu sprechen.

23. Oktober, 1967 Montag
    Du willst heute den Mund nicht aufmachen, Gesine? Die Klappe halten? Keinen Mucks tun?
    Es soll typisch sein für New York. Ein Mann hat einen Rekord von einundzwanzig Tagen Schweigens beschrieben. Es soll typisch sein für die Entfremdung in New York.
    Warum willst du schweigen, Gesine.
    Ich mag nichts reden.
    Gespräche wegen der Arbeit sollen nicht gelten. Marie rechnen wir nicht, obwohl sie wortlos zur Tür ging, nachdem sie

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