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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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(» LBJ der Schlächter«). Die Plakate und Szenen seien zu unanständig für den Druck gewesen (too obscene to print). Die meisten Verhafteten hätten sich benommen wie ordentliche Bürger, die auf einer Sauftour am Samstagabend bei was erwischt wurden; Norman Mailer habe sich, allerdings und natürlich, sichtbarlich als er selbst gezeigt. Die Gruppen der Demonstration seien weder über Ziel noch Taktik einig gewesen. Es sei Idealismus mißbraucht worden. Die Radikalen hätten einen Kampf gesucht und bekommen. So war das demnach.
    Die Sowjets wüßten nicht, daß der übergelaufene Geheimagent Jewgenij J. Runge je bei ihnen in Armee oder Sicherheitsdienst gedient hätte. Wüßten sie nicht.
    Auf der Reise nach Hause haben wir es noch einmal versucht mit Schweigen. Aber Mrs. O’Brady am Zigarettenstand wollte uns Zigaretten nur verkaufen gegen ein Gespräch über die Gefährlichkeit von Zigaretten, Mr. Stample (James F. (»Shorty«) Stample) wollte gern einen Schnaps am Grand Central nicht allein trinken, und als wir den los waren, hielt uns ein junger Mann an, mitten auf der Lexington Avenue, und fragte nach dem Weg zum Times Square, nach keiner anderen Adresse in ganz New York. (Diese Masche ist mir noch nicht untergekommen. Das müssen Sie wo gelesen haben, Mensch.) Aber in seinem jungenhaften Gesicht mit dem flauschigen rostroten Bart war tatsächlich Verwirrung, sein Akzent war wahrscheinlich britisch, ausreichend für einen Neuseeländer, er sah wirklich aus wie jemand, der plötzlich und ohne Warnung mitten in einer Fremde abgesetzt wurde, und so nahmen wir ihn mit unter der Erde vom Grand Central bis zum Fuchsbau unterhalb des Times Square, immerzu im Gespräch, mit Vergnügen an dem anderen, dem auswärtigen, dem Kinderzeiten-Englisch. Und Marie stand an das Geländer um den Ubahnausgang 96. Straße gelehnt, ein etwas besorgtes, ein entschlossenes Kind, das noch ein paar Schritte ohne Sprechen zuläßt, ehe der Tag ins Reine gebracht werden muß.
     
    – Bist du noch traurig, Gesine.
    – Nein.
    – Weißt du noch, über was du traurig warst.
    – Nein.
    – Das sind diese gottverfluchten Montage, Gesine. Manchmal mag ich auch nicht, Gesine.

24. Oktober, 1967 Dienstag
    Nun hat Albert Gallo (»Baby Knall«) nicht nur die Führung der Mafia von Brooklyn dem Joseph Colombo überlassen müssen, er wurde gestern morgen um sieben auch noch verhaftet wegen ein bißchen Zwang und Erpressung bei einem Pferdewettenmogeleitrick.
    Leo Held, 39 Jahre, wohnhaft in Loganton in Pennsylvania, Vater von vier Kindern, im Ansatz ein Kahlkopf, 6 Fuß, 200 Pfund, »ein ruhiger, friedlicher, für seine Familie lebender Mann«, »ein geachteter Bürger«, ehemals Mitglied der Schulkommission, eifriger Jäger und guter Schütze, ohne Vorstrafen, nie wegen Geisteskrankheit in Behandlung, seit 21 Jahren Angestellter der Papiermühle Hammermill in Lock Haven, erschien gestern gegen acht auf seiner Arbeitsstelle mit einem Revolver vom Kaliber 38 und einer Magnum 44 und erschoß von seinen Kollegen fünf, offenbar ausgesuchte, verwundete auch vier. Gegen viertel neun erschoß er die Frau in der Telefonzentrale des Flugplatzes Lock Haven, eine Nachbarin. Zu Hause, siebzehn Kilometer weiter, schoß er auf ein schlafendes Nachbarnehepaar, tötete den Mann, versorgte sich mit seiner Munition und schoß sich mit zwölf Polizisten, bis sie ihn endlich auch in die Hände trafen. Er wird es wohl überleben.
    Als gestern nachmittag Robert Smith, 470 Sheffield Avenue in Brooklyn, laut mit seiner Frau Clarice stritt, ging ihr sechsjähriger Sohn Randy in die Kleiderkammer, holte seines Vaters Gewehr, Kaliber 22, lud es, legte an und schoß den Vater in die Brust. Der macht der Mutter nie mehr einen Krach.
    Cresspahl 1933 in Jerichow fühlte sich behandelt, als sollte er von einem Krach abgehalten werden. Am Morgen paßte er im unteren Korridor einen Moment lang nicht auf, und schon hatte er eine Umarmung von Louise Papenbrock weg. Der alte Papenbrock wartete beim Frühstück, bis er seine Frau bei dem Kind beschäftigt wußte (»bei den Kindern«), dann schickte er Edith zum Lübecker Hof und ließ sie zwei Krüge Kniesenack bringen und schenkte Cresspahl und sich einen großen Richtenberger dazu; nicht nur war er dankbar für die Gelegenheit, sieben eine gerade Zahl sein zu lassen, er war auch erleichtert, daß dieser Schwiegersohn etwas vom Trinken verstand. Er hatte das früher nicht bemerkt. Papenbrock und Cresspahl gingen die Stadtstraße

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