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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Vielleicht sollte ich mich ihr vorstellen.
    – Sie können da nicht rein. Wenn Francine sich verabschieden möchte.
    – Nein, Marie. Ich möcht es ihr nicht sagen.
    – Siehst du.
    – Schon du hast es nicht verstanden. Es war keine Lüge.
    – Dann gehst du jetzt.
    – Wir können jetzt gehen, Mister.

24. Februar, 1968 Sonnabend
    Eine Anzeige an die Öffentlichkeit. Louis Levinson, 75 Jahre alt, Bruder von Sam, Isidore, Tillie und Pearl Levinson, möchte mit irgend einem Mitglied seiner Familie in Verbindung treten. Telefon IN 1-6565.
    Als meine Mutter ein Kind war, sagte ein Arzt: Das Kind hat es mit dem Herzen. Und lassen Sie es öfter mit dem Stock gehen.
    Dabei hatten die Kinder den Stock quer im Rücken und mußten ihn in den Armbeugen festhalten. Damit sie Haltung lernten.
    Meine Mutter hatte enge Hüften. Noch als sie sechzehn war, wurde sie »schwach« genannt. Sie ging immer leicht vorgebeugt, mit eingesunkenen Schultern. Sie ermüdete schnell, schon von einer halben Stunde Spazierengehens. Dann lernte sie das Reiten.
    Wenn sie an einem Spiegel vorbeikam, hieß es: Ick kann mi nich helpn, ich finn mi hüpsch. Damit ist sie ihr Leben lang aufgezogen worden. (Weil sie einmal, mit zehn Jahren, sich um eine Viertelstunde beim Kämmen verspätet hatte.) Finnsti tau hüpsch? Even if I say so.
    Mit achtzehn Jahren war sie Schnittlauch auf allen Suppen.
    Als Kind hatte sie gesagt: ich kenne ein Mädchen, das glaubt nicht an Gott.
    Gott, der die Atombombe erfand, schießt auch auf Sperlinge, damit sie vom Dach fallen.
    Sie ging so leicht, ihre Schuhe wurden nicht älter.
    Ihre Kleider hörten alle am Knie auf, als sie nach Lübeck heiraten sollte.
    Papenbrock 1931 zu Cresspahl: Ich bin sicher, daß Sie meine Tochter glücklich machen können. So von Mann zu Mann.
    Ein Satz, heimlich aufgeschrieben in Richmond, August 1932: You know, I have secrets in my head, but I do not know them. Only my head can get at them.
    Manisch verantwortlich noch für die Vögel im Garten.
    Als die Ärzte wußten, woran sie gestorben war, wuschen sie ihr die Haare.
    Bei Beerdigungen stand vor dem Nordportal der Petrikirche ein Pult mit Liste, in der die Trauergäste sich eintrugen. Pauli Bastian stand daneben und fragte: Besichtigung? Besichtigung? Diesmal durfte er das nicht sagen. Diesmal wurde gefragt: Was! Keine Besichtigung? Keine Besichtigung?
    Eine Protestantin. »Protestanten entscheiden selber, was vordringlich ist.«
    Das Geräusch der Strandsteine, die die zurücklaufende Welle abreibt. Dahin konnte sie den Kopf lange halten, am liebsten im Nebel.
    Wenn sie Herdringe herausnahm, konnte sie vergessen, daß sie sie am Haken in der Hand hielt, so benommen sah sie ins Feuer.
    Immer hat sie sich über ihren langen Hals gewundert. Als Kind hatte sie fast gar nicht Hals.
    Sie war so unverhofft weg; es wurde ja nicht von ihr gesprochen.
    Nicht zu sehen.

25. Februar, 1968 Sonntag
    Viele Senatoren im Ausschuß für Auswärtige Beziehungen mögen der Regierung in der Tonkin-Sache kein Wort mehr abnehmen, und der Vorsitzende Fulbright nennt den Kriegsminister McNamara pflichtvergessen wegen Unterschlagens von Information. Nennt ihn derelict.
    Derelict; möchte das Wort nicht passen auf das Englisch der Angestellten Cresspahl, die in einem Land mit solcher Sprache ihre Arbeit verkaufen möchte, wie auf ein treibendes Schiff ohne Steuermann und Besatzung. Bei derelict hilft wenig genug, daß es sich zurückdenken läßt in die Lateinstunde vor siebzehn Jahren in Gneez, zu linquere und weggehen, zu relinquere und zurücklassen, zu relictus, dem Zurückgelassenen, dem die Vorsilbe nur noch die Gründlichkeit, Vollständigkeit und Endgültigkeit seines Zustandes betont: derelict, das Land, von dem die Bewohner fortzogen, der Boden, auf den der Bebauer verzichtet, die Anschwemmung, die das Meer zurückläßt, das verlandete Gewässer, das aufgegebene Wrack, das verrottete Haus, das herrenlose Gut, die nicht abgeholte Fundsache; und wenn eben noch die Bedeutung hinter Zäunen von Wissen eingesperrt schien, ist sie schon entschlüpft und der nächste Schritt ins vermeintlich Sichere trifft ins Bodenlose. Denn die Cresspahl hat Englisch gelernt, nicht Amerikanisch; und das Amerikanische ist seit hundert Jahren gewöhnt, aus dem passiven Relikt und Derelict über die Dereliction und Vernachlässigung der Pflicht eine Person zu denken, die das aktiv tut: den Delinquenten, den Schuldigen, einen Lügner genauso wie die Leute, die für Polizei

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