Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
und Times nicht einfach nur Heruntergekommene sind, sondern auch solche, die sich von der Gesellschaft mit Vorbedacht abkehrten und nun in Fransen und bärtig, schwankend von Hunger und Alkohol auf der Bowery stehen, Bettler, Stadtstreicher, derelicts.
Mr. Fulbright hat dem Mr. McNamara zu verstehen gegeben, was er von ihm hält; die Cresspahl hat den Herren zugehört. Sollte sie unverzüglich erläutern, was sie begriff, sie würde zögern. Vielleicht verdankt sie die Vorstellung von McNamara auf der Bowery doch der Zwischenzeile, in der die New York Times das Wort derelict hervorhebt; sie wäre nicht so sehr geniert, einen Fehler zu zeigen, als besorgt wegen der Schlußfolgerung, daß sie nicht vollständig kann, wovon sie leben will.
Es reicht nicht, Cresspahl. Wenn das Englisch des Genossen Stalin nicht klassisch wäre, müßte man es kinderleicht nennen. Vier, Cresspahl. Setzen Sie sich. Baumgärtner, Sie sind daran.
Nach dem Krieg amtierte Dr. Kliefoth als Direktor der gneezer Oberschule und hatte für die Englischstunden wenig Zeit. An seiner Stelle unterrichtete Frau Dr. Weidling, bis die sowjetische Spionageabwehr herausgefunden hatte, daß ihr Mann nicht Hauptmann bei den Panzern, sondern bei der Abwehr gewesen war und sie ihre Beherrschung der Sprache den Auslandsreisen verdankte, auf die Weidling sie mitgenommen hatte. Herr Kliefoth war bald abgesetzt, auch als Lehrer. Englisch wurde dann bis zum Abitur gegeben von einem Junglehrer, der den Vornamen Hansgerhard trug. Er war nicht in England gewesen und erklärte der schweigenden Klasse, daß seine Professoren auf der Universität Greifswald ihm gelegentliche Abweichungen in der Aussprache freigestellt hätten, wenn er die britischen Schallplatten nicht habe nachmachen können. Seine Begründung sei gewesen: er höre das anders. Es war seine erste Lehrerstelle, und es war sein erster Fehler. Danach wies er auf seine Jugend hin und bat die Schüler, sie trotz ihres Rechts auf den Nachnamen mit dem Vornamen anreden zu dürfen; er erwähnte den Neuen Geist der Neuen Schule. Lise Wollenberg meldete sich. - Aber gern, Hansgerhard: sagte sie. Heinz Wollenberg galt noch als Stütze der Gesellschaft, und Lise bekam von dem jungen Mann die Entschuldigung für seinen Wutausbruch. Nach diesem dritten Fehler nannte er nicht mehr alle beim Vornamen. Bei ihm wurde nicht »Der goldene Käfer« von Edgar Allan Poe gelesen. Er nahm durch »Ist der Krieg unvermeidlich?« von Jossif Stalin. Die Schülerin Cresspahl, vorderste Tischreihe Mitte, am Gang, bekam da nicht gute Noten. Mit Privatstunden bei Kliefoth war es nichts, da der weder Gefälligkeit noch Geld dafür angenommen hätte. Hg. Knick verstellte die Lippen, wenn er in die Fremdsprache hinüberwechselte, mit Bewegungen wie beim Kauen, verstellte auch die Stimme, und mußte sich mehrmals pro Monat von seinen Schülern sagen lassen, daß sie es anders hörten, obwohl seine Lautwerte wahrscheinlich so britisch wie ihm möglich ausfielen. Beim Abitur stand die Cresspahl in Englisch auf Eins, und sie bekam die Zulassung an der hallenser Universität für einen holprigen Aufsatz über die Aussichten einer kommunistischen Partei in einer parlamentarischen Monarchie. Die Sachsen hatten es auch mit dem Neuen Geist der Neuen Schule, aber sie stellten nicht anheim, wie man es hört, und Professor Ertzenberger hätte sie am liebsten als Demonstrationsperson in seinem Seminar vorgeführt. Er war begeistert über das Beispiel.
Fräulein Cresspahl, bitte sprechen Sie eine Verbindung von k und l.
Tackle. Shackle.
Und nun in einem deutschen Wort.
Mecklenburg.
Hören Sie es?
Nein, Herr Professor.
Sagen Sie: Wesel.
Wesl.
Ihre Artikulation ist meek-lenburgisch bis in die Knochen, Fräulein Cresspahl! Sie können das l nicht abtrennen! »M e ckl e nburg«. Das muß weg.
Da fing sie an, zu sprechen, und im zweiten Semester, im Schnellzug Leipzig-Rostock, verstand sie erst beim zweiten Mal den Fahrgast, der sie englisch ansprach auf das englische Taschenbuch, das sie in der Hand hatte. Allerdings waren Engländer auf den ostdeutschen Staatseisenbahnen nicht die Regel zu jener Zeit. Noch in Frankfurt am Main, als sie das Dolmetschen lernte, kam sie nicht hinein in das Englisch der Kinder, die sie abends im amerikanischen Viertel der Stadt zu besorgen hatte, und noch nicht beim Armeerundfunk der Amerikaner in Westberlin hatte sie sich so weit, »either« mit einem i auszusprechen, »fast« mit einem ae und das Wort
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