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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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für Künste wie das für Herz, arts als hearts. In New York gilt ihr Akzent als neu-englisch, und in Neu-England als new yorker Mischmasch. Nach fast sieben Jahren in New York kann sie vom Dollar auch als dem buck sprechen, dem Bock; sie denkt aber im Gehirn die britische Aussprache mit und hilft sich mit der Vorstellung, daß ein Bock ein Besitz ist, daß man ihn sichten, jagen, erlegen kann. Dagegen ist das Sprechen von Italienisch oder Französisch für sie eine ungefährliche Übung, allseitig beaufsichtigt und geplant; im Amerikanischen muß sie Grammatik nicht mehr planen, und dennoch fällt sie gelegentlich in ratlose Pausen wie abwärts aus großer Höhe.
    Nannte McNamara derelict.
    Wo in den anderen Büros die Familienfotos und die Blumentöpfe stehen, hat sie einen schmalen Papierstreifen angebracht (der dem puertorikanischen Packer nicht ausreichte als »Persönliches«). Darauf steht: THE CUSTARD APPLE IS THE FRUIT OF THE SWEET-SOP . Er heißt nicht mehr als DIE FLASCHENBAUMFRUCHT IST DIE FRUCHT DES FLASCHENBAUMS , aber sie versteht ihn nicht. Denn CUSTARD auf dem Schild, das sie zweimal sieht an jedem Arbeitstag auf dem Ubahnhof Times Square, es hat mit Flaschenbäumen nichts zu schaffen, custard ist Eierpudding. Allerdings sind die Früchte des amerikanischen Flaschenbaums geformt wie ein Ei. Der Eierschnee jedoch hat seinen Namen von einem französischen Wort für Pastete. Der Flaschenbaum, so genannt wegen seiner Stammbildung, heißt allerdings der Süße Eingeweichte, sweet-sop, und ein anderes Wort für seine Frucht ist sugar apple, der Zuckerapfel. Sie begreift nicht, was diese Worte von einander wissen, und der leichte abkippende Schwindel beim Anblick dieses Satzes warnt sie vor der Einbildung, sie könnte jemals auf der englischen Seite der Sprache leben.
    Damit soll sie morgen arbeiten gehen.

26. Februar, 1968 Montag
    – Sie nannten es Reichskristallnacht? sagt Marie.
    – Ja.
    – Wie Washingtons Geburtstag?
    – Ja.
    – Fang an, Gesine.
    – Weil den Juden ja auch Kristall kaputtgeschlagen worden war, oder gestohlen.
    – Du hast gesagt: es ist den Juden ans Leben, an ihre Betriebe, an ihre Wohnungen gegangen. Eine Milliarde Mark als Strafe. In die Schulen durften sie nicht mehr. Die Pensionen waren weg. Die Versicherungen galten nicht. Und die Regierung nannte das hart, aber legal.
    – Ja, Marie.
    – Und war Reichskristallnacht ein Regierungswort?
    – Nein. Das war von den Regierten.
    – Ich will dir ja glauben, aber erklär es mir noch einmal.
     
    In der Woche nach der Reichskristallnacht war Cresspahl noch in Jerichow. Es war eine ganz gewöhnliche Woche.
    Am 14. November, Montagabend, veranstaltete die N. S. D. A. P. einen Kameradschaftsabend im Strandhotel von Rande. Das Strandhotel stand schräg gegenüber der Schiffsanlegebrücke, an der Straße der S. A. Die Musikschule Gneez wirkte mit Instrumentalstücken mit, und eine Gruppe Jungmädel sang »Die roten Fahnen brennen im Wind«. Jungmädel wurden die genannt, die noch zu jung waren für den B. D. M. Die Rede zur Begrüßung hielt Friedrich Jansen, in stillen, nahezu zahmen Tönen. Der Saal des Strandhotels war bis auf wenige Stühle besetzt, und Jansen konnte auch dem Kreisleiter für seine Gegenwart danken. Swantenius aus Gneez betrachtete ihn mit verstecktem Lächeln, das der andere für kameradschaftlich hätte nehmen können, sollte es ihn nicht daran erinnern, welche guten Dienste Swantenius ihm beim Obersten Parteigericht geleistet hatte. Jansen rief dreimal Siegheil, und dreimal antwortete ihm der Saal mit Siegheil. Es führten dann noch Jungmädel in mecklenburgischer Volkstracht Volkstänze vor. Die N. S.-Frauenschaft hatte Lieder eingeübt. Zum Schluß gab es noch ein Theaterstück in plattdeutscher Sprache, bei dem viel gelacht wurde, und die Schieß- und Würfelpreise wurden verteilt. Der Tanz ging bis nach Mitternacht. Als die Jerichower von dem Fest zurückkamen, war die Stadt dunkel, bis auf zwei Fenster in Papenbrocks Haus. Da saß der Alte, und mochte Cresspahl nicht nach Hause lassen. Er war müde vom Trinken und weckte sich nur selten durch hohes Aufseufzen. Cresspahl blieb, bis Papenbrock nicht mehr merkte, daß er auf sein Kontorsofa gelegt wurde.
    Am Dienstag wurde im Cresspahlschen Haus die Tüte für die Pfundsammlung abgegeben. Auf die Tüte war ein stilisierter Reichsadler gedruckt, der auf einem Hakenkreuz hockt. Später kam Frau Jansen und entschuldigte sich im Namen des

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