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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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unglaubwürdig machen, ihm jedes Wort im Munde entwerten. Wie lehrt uns Hans Magnus Enzensberger einen Feind behandeln?
    Als »Ihr aufrichtig ergebener Hans Magnus Enzensberger, 31. Januar, 1968«. »Yours faithfully.«
     
    – War dieser Ihr Landsmann vorher nie in dem Land, das wir hier so haben?
    – Er war mehrmals im Land, und länger.
    – Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
    – Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
    – Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
    – Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
    – Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
    – Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
    – Weil solche Leute dort Wind machen?
    – Ja. Solche guten Leute.
     
    Von dem Nebel, der gestern abend den Fluß früher mit Dämmerung verhängte, war am Morgen starker Dunst übrig geblieben. Noch das 14. Stockwerk war in blindes Zeug gepackt. Nachmittags wehte heftiger Sprühregen gegen die Fenster, noch abends.

1. März, 1968
    Um sechs Uhr morgens war Schnee im Park. In der Stadt war er gleich zu Matsch gefahren. Mittags war Lexington Avenue fast trocken, hell von Sonne.
    Mr. Greene hat aufgegeben. Vor zwanzig Jahren fing er an mit einem winzigen Uhrmacherladen an der Lexington, zwischen der 81. und 82. Straße, und er ist einer von den vielen, zu denen wir immer wieder gegangen sind, als gäbe es solche Geschäfte am oberen Broadway nicht auch. Sein Laden war am hellen Tage verschlossen, und er musterte seine Kunden aufmerksam durch die vergitterte Tür, bevor er mit einem Knopfdruck die Arretierung löste. Er hat genau blickende Augen, fast kornblumenblau; beim zweiten Mal versuchte er den Kunden kennen zu lernen durch Ansehen. Ihre erste Armkette mit der Identifikation bekam Marie von ihm graviert. Sein Arbeitstisch war säuberlich mit vielen Instrumenten belegt. - Werfen Sie die Uhr nicht weg: sagte er, als er auch hätte versuchen können, uns eine neue zu verkaufen. Es ist eine gute Uhr; wo aber liegt jenes Ruhla? sagte er. In den letzten Jahren ist sein Laden siebenmal überfallen worden, und einmal ausgeräumt, und nun will keine Versicherung mehr. Seine Police ist gekündigt, und er macht zu. Sein Geschäft bekommt ein Ehrenbegräbnis in der Times, mit einem Stück persönlicher und statistischer Geschichte, und sozialkritisch erheblichen Kommentaren eines Versicherungsagenten wie: Vor Jahren war es das Schlimmste, einen Kunden zu finden; heute ist es das Schlimmste, eine Gesellschaft für den Kunden zu finden. Und da die Polizei sich zu der Sache nicht äußern will, vermerkt die Times, daß die Polizei sich nicht äußern will.
    Der Stadtpolizei von Jerichow, der Luftwaffe zuliebe nun drei Mann stark, blieb es erspart, der Gestapo auch noch bei der Ausweisung Aggie Brüshavers zu helfen. Aggie ging aus freien Stücken.
    In der Regel konnten Pastorenfrauen ein Wohnrecht behalten, wenn der Mann im Zuchthaus saß. Aber Brüshaver hatte dem Staat zuviel zugemutet mit Daniels Bußgebet am Tag vor Lisbeths Beerdigung. Statt die Äußerung abzustreiten, es gehe der Teufel (dein Feind) umher wie ein brüllender Löwe, Petrus 1,5, hatte er seinen Vernehmern nicht nur dafür die Stellenangabe geliefert, auch für die anderen, die ein aufmerksames Mitglied seiner Gemeinde seit 1936 mitgeschrieben hatte. Nach der Verbüßung der Strafe war ihm Schutzhaft in einem Konzentrationslager verordnet, von der ein Ende nicht abzusehen war. Die gleichberechtigte Begräbnisfeier für die Leiche Cresspahl war dem Oberkirchenrat über die Hutschnur gegangen, von daher konnte sie nicht Hilfe erwarten oder daß Brüshaver einmal von neuem in Jerichow eingesetzt wurde. Er war im Amt nicht nur suspendiert; die Behörde war sich für eine Exmission nicht zu gut gewesen. Die illegale Kirchenleitung, der Landesbruderrat, hatte ihr einmal Geld zuwenden können. Leute wie die von Bobziens scheuten sich nicht, ihr Kartoffeln und Wild ohne Berechnung zu liefern, ließen ihre Wagen auch am hellichten Tag vor dem Pfarrhaus halten; und als sie aus der Stadt war, verließ Baron von Rammin aus »nationalsozialistischen und religiösen Gründen« die Deutsche Glaubensbewegung, öffentlich, per Anzeige. Aggie Brüshaver war nicht entgangen, daß auch Jerichow sie drängte. Ihre Kinder wurden in der Schule in

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