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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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der Steinkohleformation, und ist ihrs geblieben. Sie dienen der Wissenschaft, wegen ihrer Widerstandskraft und angsterregenden Fruchtbarkeit. Sie können mehrere Monate hungern, und wenn sie begreifen, daß Nahrung nicht nachkommt, ziehen sie weiter. Sie können etwas begreifen, sie sind intelligent, sie können lernen. Zwar ist nicht begreiflich, wozu sie ihre fünf Monate leben, da ihr einziger Zweck scheint, sich in die Zukunft weiterzugeben, aber sie sind da. Sie leben bei den Armen wie bei den Reichen, und auch Francine glaubt es nun; sie wohnen in Flugzeugen, auf der South Ferry, in den höchsten Häusern aus Glas; sie sind der kleinste gemeinsame Nenner von New York; es ist gut möglich, sie sind vor den Menschen auf dem Mond. Sie sind ein listiges Pack.
    Ein ganzes Vierteljahr haben wir uns gewiegt in dem Glauben, unsere Wohnung sei fast frei von ihnen, und begnügten uns mit dem Pulverstrich, den der Kammerjäger der Hausverwaltung allmonatlich vor die Eingangstüren zieht, als Grenzsicherung. Dann brach über das Wochenende die Heizung zusammen, und seit am Montag mit einem Male die Wärme wiederkam, versuchen sie für solche Zwischenfälle eine neue Taktik auszuprobieren und wagen sich ganz offen ins Freie, stinkend vor Angst, wenn sie angegriffen werden. Was in diesen Tagen bei uns für Worte fallen über die Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeit gegen Tiere, es ist die reine Notwehr. Wenn Marie daran erinnert wird, daß sie einmal Miete bezahlen wollte für diese Geschöpfe, sie schlägt um so härter zu, um so unerbittlicher geht sie den Biestern mit der Sprühkanne hinterher, unwidersprochen fluchend.
    De Rosny hat sein Büro still geräumt, ohne Aufstand und Bestrafung eines Schuldigen. Es gibt keinen Schuldigen, nicht im Hause, nirgend wo. De Rosny weiß, wann er geschlagen ist. Hier hat er aufgegeben.

6. März, 1968 Mittwoch
    Auf die Frage, wer er sei, soll Che Guevara seinen Namen gesagt haben und: Töten Sie mich nicht. Lebendig bin ich Ihnen von größerem Nutzen als tot.
    Manches läßt sich die New York Times noch in München erzählen, aber eigens aus Prag hat sie mitgebracht, daß das neue Parteipräsidium nicht mehr Jiří Hendrych als Sekretär für ideologische Fragen haben will, Hendrych, der so inbrünstig auf ungehorsame Schriftsteller und Studenten schimpfen konnte. Auch sollen in der Č. S. S. R. demnächst ausländische Bücher und Zeitungen verkauft werden dürfen wie normale.
    Für die amtlich in Viet Nam Getöteten aus der new yorker Gegend nimmt die Times heute nicht mehr die normale, sondern die allerkleinste Type.
    Sein Kind hatte Cresspahl zu den Paepckes gebracht. Weil sie Mecklenburg verlassen hatten, hießen sie in der Familie »Berliner-Stettiner«, und auch dem Kind schienen sie weit entfernt von Jerichow, von Cresspahl. Es war eine ungefährliche nächtliche Reise gewesen, und obwohl Cresspahl sie ihr als Umzug erklärt hatte und ihre Kleider und Spielsachen in einem Koffer mitkamen, glaubte sie nicht daran, daß der Vater sie von sich trennen werde. Auf der anderen Seite des Mittelgangwagens, bequem auf die Polster gestreckt, saßen zwei Marinedienstgrade, die einander aus Langeweile anpflaumten. - Du, dat segg ick min Murre: sagte der eine von den beiden Erwachsenen, in ganz breitem Mecklenburgisch. Es hörte sich an, als könne er kein Hochdeutsch. Die beiden waren Stimmen und zwei rot aufglühende Zigaretten. Für das Kind waren es die allerersten »Matrosen«. Sie prägte sich ein, daß sie nicht mehr sagen konnte, womit die Matrosen Spaß machten. Sie schlief im Zug ein, und als sie am nächsten Morgen wieder aufwachte, drückte sie die Augen unverzüglich hart zu, so erschrocken war sie, ganz unter Fremden zu sein. Dann sprang sie auf und lief durch das Paepckesche Haus, verlief sich, fand endlich die Haustür. Cresspahl war schon abgefahren.
    Von den beiden älteren Paepckekindern wurde das Cresspahlsche genau darauf angesehen, ob sie ihnen etwas wegnahm. Sie nahm ihnen nichts weg. Alexandra behielt ihren Platz neben der Mutter, Dick Eberhardt mußte seinen neben ihr nicht opfern, die Christine auf Hildes anderer Seite war ohnehin nicht in Gefahr. Diese Gesine saß am unteren Ende des Tisches, hielt die Augen auf dem Teller und aß ihr Brot auf eine besondere Weise: erst rundum die Kruste, dann in vorsichtigen langsamen Bissen das weiche Mittelstück, als sei das etwas Kostbares. Die Paepckekinder durften essen, wie sie wollten, und wenn eins von

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