Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
seiner Scheibe die Butter abgeleckt hatte, strich Hilde sie unerschütterlich neu. Auch nach dem Frühstück wurde das neue Kind nicht unbequem, ging gehorsam mit, nahm alle Spielvorschläge an, kehrte die Ältere nicht heraus. Nach einer Weile ging sie weg und suchte sich auf dem Dachboden eine Stelle zum Weinen. Am Nachmittag ließ sie sich alles sagen, was die anderen von Stettin zu berichten hatten, von Filmtheatern, Hafenrundfahrten; offenbar hatte die mit ihrem Jerichow nichts anzugeben.
Am Abend erwies sich, daß die Neue doch etwas gewonnen hatte. Denn nun war ihr Platz neben Alexander Paepcke, der da unten gern für sich allein gesessen hatte, damit er genug Platz hatte für Zeitung und das Glas Bier. Heute abend vergaß er fast das Essen über den vielen Fragen, die er an das Kind aus Jerichow zu richten hatte. Fragte Methfessel immer noch die Leute, ob sie ein Löwe sein wollten? Hatte Cresspahl ihr schon ein Taschengeld ausgesetzt? Wollte sie sehen, wie man einen Spazierstock auf der Nase balanciert? Er machte es ihr vor, und er verabreichte ihr ein »Nadelgeld« um fünf Pfennige höher als Alexandras, streng nach dem Alter, und mit ihm redete das Cresspahlsche Kind, obwohl sie nicht gern aufsah. Sie erinnerte sich der Pflichten eines Gastes, die der Vater ihr eingeschärft hatte, und versuchte gehorsam zu sein. Endlich gab Paepcke es auf. Zum Schluß wollte er ihr über die Haare streichen, erwischte noch rechtzeitig Hildes warnenden Blick. Dann nahmen sich die eigenen Kinder mit ihm das Recht, das sie vorher nicht erkannt hatten. Paepcke war nun geradezu feist im Gesicht, hatte früher so abgearbeitet nicht ausgesehen, war langsamer; aber er mußte sich nur Mühe geben, dann war er für Kinder der Zauberer, Spaßmacher und Spaßopfer in einem. Er gab sich viel Mühe an diesem Abend, und es war reichlich Gelächter in der Küche, aber das Cresspahlsche Kind fragte doch bald, ob sie nach oben gehen dürfe.
Am Abend, für teures Geld, ließ Paepcke sein Telefon mit Jerichow 209 verbinden. Er wollte Cresspahl ins Gewissen reden. Es war recht und einsehbar, daß der sein Kind nicht unter die Fuchtel von Oma Papenbrocks Religion geben wollte, nur weil er meinte, daß die eigene Frau davon gelernt hatte, zu Grunde zu gehen; es war der Papenbrockschen zu gönnen, daß sie das hatte anhören müssen, ohne daß der Alte oder Hilde ihr geholfen hätten. Sie hatte dagesessen wie ein großer gekränkter Vogel, fett und gesträubt. Geweint hatte sie obendrein; das Weinen war in der Familie mittlerweile bekannt, wann immer es sich zu ergeben schien. Aber Paepcke mochte nun einmal nicht mit einem unglücklichen Kind unter einem Dach leben, und er traute sich eine Tröstung des Kindes nicht zu, weil es nach Cresspahl schlug und eigensinnig bleiben würde auch in der Trauer. - Hinrich, ein’ Hunt wür’t jammern: sagte Paepcke. Am anderen Ende der Leitung blieb es lange still, Paepcke meinte aber kein Seufzen zu hören. Dann sagte Cresspahl: Alex -, in einer bestimmten Art, ganz ohne Hoffnung, und Paepcke setzte ihm nicht mehr zu. Er war sehr unzufrieden, und an diesem Abend sagte Hilde kein Mal: Suup nich so, du!
Gegen zehn Uhr kam seine Tochter nach unten, weil sie das Bett des Cresspahlkindes leer gefunden hatte. Alexandra sagte aber nicht, wo die Fremde war, um sich eine Predigt über Gastfreundschaft zu ersparen, und Paepcke mußte das ganze Haus absuchen, bis er Gesine auf dem Dachboden fand, wo sie im Dunklen zwischen Koffern und Körben hockte, um in Ruhe weinen zu können. Paepcke war so aufgebracht, er schrie außer dem Kind alle ohne Unterschied an, auch das Dienstmädchen holte er dazu aus dem Bett, und am Morgen erzählte die Regierungsratswitwe Heinricius im »Kolonialwaren«laden, daß Paepcke in der Nacht habe seine Frau umbringen wollen, es seien Schüsse gefallen, und die Feuerwehr sei gekommen.
Paepcke saß beim Frühstück und sagte mit einem Blick auf das Cresspahlsche Kind: Wenn einer nun bedenke, wie es Leuten gehe. Und er sei Heeresintendanturrat geworden. Das sei doch nicht mit rechten Dingen. Und am Abend kam er nicht nach Hause, blieb in der Bahnhofswirtschaft von Podejuch hängen bis Mitternacht. Paepcke mochte nicht zusehen, wenn es Kindern übel geht. Es war so; es hat ihm später den Tod eingebracht. Und wenn gesoffen werden mußte, tat er es noch lieber auswärts.
Du sollst es mir nicht vergessen, Gesine.
Ich vergeß dir das, Cresspahl.
7. März, 1968 Donnerstag
Cuba hat ein
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