Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
vorkommen mußte, bot sie Geld an als Miete für die neuen Erdenbürger und sah mit Entsetzen, daß sie weggefegt wurden in die Tüte, die der Hausmeister in der Nacht verbrennt. Mrs. Cresspahl war so geniert, sie verbot dem Kind, die Szene auch nur zu erwähnen, und sei es in dem unverständlichen Deutsch.
Dann, auf den Parkbänken im Riverside Park jenes Sommers 1961, wurde die Deutsche in die Wissenschaft von den Kakerlaken eingeführt. Die Neue galt da nicht viel, schon weil sie eine »zeitweilige« Mutter war wegen ihrer Arbeit und nicht recht mithalten konnte in den exakten Diskussionen von Darmentleerung (Menge und Färbung), von Wackelknie und einwärts wachsenden Zehen; auch weil sie dahin nichts zum Stricken mitnahm. Sie durfte dabeisitzen und zuhören, und so erfuhr sie, daß in New York jedes Jahr der Schabe gehört.
Die meist vorkommende Art hieß Deutsche Schabe.
Es wurde behandelt als ein vollständig gewöhnliches und anständiges Thema, und wenn eine Hausfrau abstritt, daß in ihrer Wohnung Schaben mitlebten, gab sie das bald auf unter mitleidigen oder spöttischen Blicken, die sie der Heuchelei bezichtigten. Von der Schabe wurde mit Respekt gesprochen, mit Haß, komischer Verzweiflung, systematischer Sachkenntnis, durchaus wie von jemand Unbesiegbarem. Denn sie fressen alles, vom trockenen Möbelleim bis zur Zündmasse am Zündholz; und mag ihnen ein Gift eine Zeit lang zu schaffen machen, nach wenig Jahren haben sie ihre Abwehrstoffe entwickelt und nehmen als Dessert zu sich, was ihr Verderben hat sein sollen. Wenn eine der älteren Matronen von dem glücklichen Jahr 1940 erzählte, als Chlordan noch gegen die Schaben verschlug, wurde das angehört nicht als Folklore, sondern als ein Stück amerikanischer Nationalgeschichte. Es wurden Thesen vorgetragen, so die von der zyklischen Welle, oder daß die Viecher überleben, weil ihnen die Fortpflanzung an erster Stelle steht, nicht an dritter wie etwa den Ratten. Die letztere Annahme wurde länger, und eifriger, behandelt als die vom Zyklus. Es wurden Schauergeschichten erzählt, wie die von der würdigen alten Dame, die neulich in ihrem abgedunkelten Hotelzimmer in Mexico beim Fernsehen saß und Filme von zu Hause betrachtete, dabei eine Brosche auf ihrer Brust befingernd. »Plötzlich ging mir auf, daß ich keine Brosche trug.« Von der hat auch die New York Times gehört; ja, die Times war im Januar imstande, der Schabe einen nahezu wissenschaftlichen Artikel zu widmen, mit solchen Fakten wie daß ihr Fluchtmechanismus in 0,003 Sekunden funktioniert, ein Weltrekord. Solch respektables Thema war und ist in New York die Schabe.
Als die Deutsche, verlegen und zu raschem Rückzug bereit, anfing von ihren ersten Erlebnissen, hatte sie eine glückliche Aufregung besorgt für die Damen auf den Bänken um den Spielplatz. Nun konnte ihr die Geschichte der Schabe noch einmal erzählt werden. Diesmal wurde nebenbei abgetan, daß die Kakerlaken wahrscheinlich auf deutschen Schiffen ins Land gekommen wären. Es gibt ja auch noch die Amerikaner unter ihnen, und die Orientalen. Der Neuen wurde eine lange Liste von Luftgiften aufgeschrieben, und die Liste ging ziemlich hastig hin und her, weil jede Hausfrau ihre Spezialität hochhielt. Dann kamen die Ratschläge: Immer beim Sprühen eine Maske vor Mund und Nase tragen, denn mag der Kakerlak die Chemikalien mit Behagen aufnehmen, dem Menschen sind sie gefährlich. Nicht zu oft feucht aufwischen, denn das ist den Orientalen gerade recht. Nach jedem Tragen die Kleider ausschütteln, auch vor dem Tragen. Alles Eingekaufte sorgsam um und um wenden, ehe es in den Kühlschrank kommt. Die Sicherungsmaßnahmen verdreifachen, wenn der Nachbar sein Appartement neu streicht; denn dann reisen sie zu dir. Dann kamen neue Schauergeschichten: wie eine Verzweifelte einmal eine ganze Pfanne voll Kakerlaken bei 300 Grad für drei Stunden sott, und wie sie dann sämtlich guten Mutes aufstanden und ihrer Wege gingen, bis auf eine, die aber auch nicht tot war, nur betäubt. Es ist in der Erinnerung eine angenehme Stunde, voll Heiterkeit und Hilfsbereitschaft; Mrs. Cresspahl aber würde einem Besucher aus Dänemark oder Deutschland nicht gern zugeben, daß die Schaben ein Kennzeichen dieser Stadt sind, geschweige denn ihm solchen Vortrag halten.
Die Sache hat ihr Erschreckendes. Die Schabe ist nun einmal das älteste Flügelinsekt, das in der Welt erhalten ist, 250 Millionen Jahre alt, es war wohl eher ihr Zeitalter, und nicht das
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