Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
zu den Leuten nicht weiß. Als de Rosny sie bei seinen Untergebenen vorführte, gingen die Begrüßungen ab mit geradezu erfreuten Mienen der Herren, und die Namen, die sie damals nicht verstand, hat sie allmählich gelernt von den Dreiecksbalken, die ein jeder vor sich liegen hat: Wilbur N. Wendell, Anthony Milo, James C. Carmody, Henri Gelliston …; die Schilder im elften Stockwerk hatten die Vornamen nicht genannt. Neben der Tür des neuen Büros fehlt noch der Name Cresspahl; zweifelsohne wird man nicht ein Schild anbringen mit dem Zusatz Miss. Wer hier oben arbeiten darf, hat Anspruch auf die Anrede einer verheirateten Frau. Sie wüßte gern, für wen sie gilt in diesen prächtigen Verliesen. Ob Mrs. Lazar sie für eine von de Rosnys Flüchtigkeiten hält? Ob die untadeligen Grußszenen mit Kollegen im offenen Raum nicht doch Zweifel an den Kenntnissen der Neuen verbergen, oder Empörung darüber, daß ihnen eine Frau an die Seite gesetzt ist? Nicht einmal Gespräche über die Arbeit sind angängig; Mrs. Cresspahl hat ihr Gebiet für sich, wie die anderen, und wird danach nicht gefragt. Gelegentlich ist sie froh, daß sie nicht im offenen Raum sitzen muß, sondern hinter einer Tür. Hier dürfen die Türen geschlossen werden, und dennoch fühlt sie sich unbehaglicher als vormals bei einer offenen, weil ein Klopfen nun überraschender käme.
Es klopft niemand. Es ist Mrs. Cresspahl überlassen, wie sie ihre Memoranden zuwegebringt; sie könnte sich lang auf das Besuchersofa legen, wenn sie etwas nachzulesen hat. Die fremde Umgebung, der Abstand zu den anderen sperrt sie unnachsichtiger mit der Arbeit zusammen; mit einem Mal kann sie sich nicht zu Pausen entschließen. Unten, wenn eine heikle Passage sich verschieben ließ, konnte sie mit einem Becher Kaffee, mit einer Zigarette zu Naomi, Jocelyn, Amanda Williams gehen und neben ihren Tischen eine Viertelstunde verreden; es hatte gehörig dienstlich ausgesehen und hatte für die Arbeit der nächsten Stunde gewirkt wie eine Kur. Die Vorschriften sind hier weniger straff; im Grunde darf sie nun entscheiden, wann zwischen neun und zehn Uhr sie ankommt, ob sie für das Mittagessen eine Stunde nimmt oder anderthalb, solange sie nur bis siebzehn Uhr an ihrem Platz zu treffen ist; sie hat solche Freiheiten noch nicht lernen können. Oft findet sie sich nun sitzen inmitten der neuen Arbeit, umgeben von Landkarten, Diagrammblättern, Zeitschriften, Büchern, und hat für Minuten nichts gedacht, weit zurückgelehnt im Drehstuhl, mit nach unten hängenden Armen, stumm, blind, taub und müde. Dennoch kann sie fast alle vier Tage einen Aktendeckel bei Mrs. Lazar abliefern, und Mrs. Lazar nimmt jedes Mal einen neuen Kurierumschlag, adressiert ihn an de Rosny und heftet ihn zu, da offenbar der übliche Verschluß mit Band und Knopf nicht ausreicht.
Komplimente aber müssen sein. Nach neun Tagen ist Mr. Milo eines eingefallen, einem Italiener, der die Sprache seiner Mutter nicht mehr spricht. Mr. Milo, braunäugig, grübelig, mit vergeßlichen Lippen, sprödem trockenem Büschelhaar, heute hält er Mrs. Cresspahl auf, als wolle er ihr etwas Dringendes mitteilen, das schon vorvorgestern zu kurz gekommen ist: Sie schreiben auf der Maschine, so habe ich es in zehn Jahren nicht gelernt! Es gab wenigstens eine Unterhaltung über die Anschlagspeicherung bei der I. B. M. 72.
Es kommt Niemand. Amanda war einmal hier, um Umzug und Einrichtung zu beaufsichtigen, sie nannte das neue Büro herrschaftlich, sie ist nicht wieder gekommen. Alle grüßen noch im Fahrstuhl, fragen nach dem Ergehen, lächeln wie für eine willkommene Bekanntschaft, jedoch von ferne. Am Freitagabend war Mrs. Cresspahl in der Abteilung Foreign Sales und wünschte auf Amanda Williams’ Maschine die Zahlen für ihre Steuererklärung 1967 auszurechnen, und alle waren verblüfft von dem Besuch, wie von etwas Ungehörigem. Als ob das Gemeinsame verschwunden sei, als die Arbeit nicht mehr auf gemeinsamer Ebene war. Mrs. Cresspahls Nachfolger ist zur Aushilfe ein Schriftsteller aus der Schweiz, der Geld für mehr Monate in der Stadt verdienen will, und weil er Schwierigkeiten mit dem Italienischen erwähnte, versprach Mrs. Cresspahl ihm ihre Hilfe. Er wird sich bei Amanda Rat holen, und er wird nichts schicken. Wenn das Telefon einmal läutet, ist es von einer fehlgeschalteten Verbindung, oder alle Zufallstage einmal de Rosny, der Lob verteilt und Gesundheit wünscht, wie man einem Pferd Zucker gibt.
So still ist
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