Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Wasser.
Es gab Abende, da las Alexander vor. Wie König Heinrich Rosamunden findet. Manchmal vertat er sich im Buch und las doch daraus vor, mehrmals und mit Entzücken eine Stelle, die erst die Studentin Cresspahl wiederfand: »Es gibt nichts so Tolles, was nicht in bestimmter künstlicher Beleuchtung momentan reizend oder selbst richtig erscheinen könnte, aber es ist alles Täuschung. In Mecklenburg verhungert niemand, in London verhungern Hunderte, dennoch ist England Stolz und Vorbild der Nationen und Mecklenburg die komische Figur. Das eine drückt eben einfach ein Höheres, das andere ein Niedrigeres aus!« Ausrufszeichen von Alexander Paepcke. - Merk dir das, Gesine! Er besann sich gleich und bezog die anderen ein und drohte ihnen »Schacht« an, wenn sie nicht ihr ganzes Leben daran dächten. Dann las er es noch einmal vor.
Und so oft es auch angedroht wurde, nie mußte ein Kind »mit barftem Kopf ins Bett«.
Und wenn sie zum Baden an die Oder fuhren, ging es nicht, ohne daß Alexander sang:
Zu Roß, wir reiten nach Linlithgow,
Und du reitest an meiner Seit’,
Da wollen wir fischen und jagen froh,
Als wie in alter Zeit.
Zum Baden in der Oder wurden große Picknickkörbe mitgenommen, voll Brot und Kuchen und harten Eiern und Milch und Obst. In einem fort bekamen die Kinder bei Paepckes zu essen. Wenn eins noch lange nicht hungrig war, sondern nur irritiert durch eine geringfügige kriechende Vorstellung von Essen, stand Essen vor ihm. Dickmilch mit Zucker.
Paepckes hatten zum Fotografieren einen Balgapparat, an den glaubten sie. Das Objekt mußte genau zwei Meter entfernt sein, und die Sonne sollte womöglich im Rücken sein. Hilde hatte das Ding im Küchenschrank liegen, und kaum hatte Christine eine Übergardine heruntergerissen, wurde sie schon fotografiert. (Sind das auch zwei Meter? fragte sie die winzige Christine.) Mit den Resten der Gardine machten die großen Kinder einen Maskenball, und sie wurden fotografiert.
Wenn die Kinder baden wollten, wurde morgens im Garten eine geschwungene Zinkwanne eingelassen. Aber hinein durften sie erst mittags, wenn das Wasser zuverlässig warm genug geworden war.
Bei Paepckes saß ein Kind beim Malen, beim Stoffzerschneiden, und Hilde ging kein Mal vorbei, ohne die Arbeit genau zu loben, nicht mit Schmeichelei, sondern mit Erkundigungen. Bei Paepckes lernten die Kinder fühlen, wer sie waren.
Hilde wußte, daß die Nachbarn erwarteten, sie werde Beschäftigung und Rang ihres Mannes in der Kleidung darstellen; sie trug ihr Haar gern im Kopftuch nach hinten gebunden, wie die Schnitterinnen. Nähte vieles selber, trug gern Hosen, erwiderte tadelnde Grüße mit harmloser Freundlichkeit, als hätte sie nicht verstanden.
Bei Paepckes konnte man auf dem Grundstück um das Siedlungshaus herum liegen wie in einem Wald unter Kiefern und Akazien, auf dem nadelglatten Boden. Dabei wurde ein Kind nicht gestört. Kam es zurück aus der Einsamkeit, hatte Hilde ein Band in der Hand, band es ihm um die Stirn. Und sie hatte sich nicht geirrt; das Kind war in der Tat bei den Indianern gewesen.
Im Sommer fuhren die Paepckes mit ihren Kindern auf das Fischland. Es war noch kein Krieg. Der Abend an der Hohen Küste sah sich seltsam anders an als an der Nordküste bei Jerichow. Am letzten Tag in Althagen kam Cresspahl. Er sah alt aus, kleiner als in der Erinnerung, ausgemergelt. Er stand ohne Ankündigung auf dem Grenzweg, und Gesine wußte, daß er sie mitnehmen würde.
Weil sie die Paepckes hinter sich wußte, schämte sie sich, auf Cresspahl zuzulaufen. Dann hörte sie Alexander sehr laut über Vogelnester sprechen und begriff, daß sie alle ihr nicht zusahen. Dann lief sie.
Am nächsten Morgen war nichts richtiger, als mit ihm nach Jerichow zu fahren. Es war bereits falsch, die Paepckes zurückzulassen.
Wenn du es aufgeschrieben hättest, Gesine, es wär ja reinweg ein Bedankmichbrief.
Soll sein.
Um uns trauerst du auch?
Ja.
Das hätten wir von dir nicht gedacht zu Lebzeiten. Als wir lebten, nicht.
9. März, 1968 Sonnabend
Bewölkt, milde, um zwölf Grad; doch nicht ein Tag der South Ferry. Angezogen hat Marie sich wie für das Schiff, Hosen und darüber einen Anorak mit Kapuze, für schlechtes Wetter, wenn die Kleidung derb sein muß und nicht zu wertvoll. Marie hat sich den schulfreien Tag ausgesucht, um sich mit ihrer Freundin Francine ins Reine zu bringen, aber mit dem Telefon fand sie sie nicht in dem städtischen Obdachlosenhotel. Nun wollte Marie sie
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