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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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dem Anfang des Krieges verboten war; Cresspahl hatte ein Ding namens Volksempfänger, VE 301, mit Antenne 76 Reichsmark, »geschaffen zur Erinnerung an die Volkserhebung am 30. 1. 1933«. Cresspahl war auch kaum noch im Gerede von Jerichow. Es mochte heißen, er sei nach dem Tod seiner Frau etwas wunderlich geworden. Hielt den Kopf wie ein störrisches Pferd, hatte sich ein Nicken angewöhnt, das sah taub aus, um eine Spur zu gehorsam. Oft wurde es auch für Dummheit genommen, so daß gelegentlich ein Auftrag ihm zweimal erklärt wurde, als hätte er ihn nicht verstanden. Dann erwies sich, daß er wohl verstanden hatte, und er nickte doch wieder. Und einige in Jerichow hatten ihren ureigenen Grund, den Mund zu halten, denn bei dem Brand von Cresspahls Werkstatthaus war nicht wenig geklaut worden, was noch zu gebrauchen war; Alwin Paap hatte nicht überall sein können. Es gab Morgende, da waren über den Zaun Werkzeuge geworfen, mit C gezeichnet. Sie taten es vielleicht nicht nur, weil das Zeichen sie hätte verraten können. Und es war gesünder, Abstand zu halten von einem Menschen, der mit Unglück zu tun hatte -
    Geh, du schwarze Amsel,
    Wann ich schon schwarz bin,
    Schuld ist nicht mein allein,
    Schuld hat mein Mutter gehabt,
    Weil sie mich nicht gewaschen hat,
    Da ich noch klein,
    Da ich -
    und Amseln haben auf einem Baum hinter dem Haus, es fiel auch nicht auf. Da waren viele, und viele waren tapferer als er.
    – So habe ich es nicht gemeint, Gesine.
    – Viele waren beim Verraten tapferer als er.
     
    Um sieben war die Dunkelheit ganz klar. Das Hochhaus auf dem anderen Ufer des Hudson ist beleuchtet wie zu einem Fest. Von New Jersey aus sieht unser Riverside Drive beleuchtet aus wie zu einem Fest.

8. März, 1968 Freitag
    Die New York Times freut sich, daß Studenten in Harvard nun auch sie parodiert haben. Auf der witzigen Titelseite bricht unter anderem der Parthenon zusammen, und es gibt einen Zweispalter links oben über das Versagen einer Luftbrücke nach Khesanh: da die Fallschirme nicht funktionieren, fallen Panzer und schwere Geschütze gnadenlos auf die Menschen unten …
    Hafenarbeiter in New York haben sich geweigert, die Ketsch von Dr. Benjamin Spock zu verladen, mit der er bei den Virginischen Inseln hatte segeln wollen. Dr. Spock ist vor einigen Monaten im unteren Manhattan mitmarschiert in einer Demonstration gegen den Krieg in Viet Nam, und die Hafenarbeiter mögen es ihm nicht vergessen.
    Seit Mitternacht des Sonnabend sind 19 251 Amerikaner in Viet Nam gefallen. Tot.
    Und wenn sie sich auf den Auslieferungsvertrag von 1925/1935 berufen sollen, die Tschechoslowaken wollen ihren entlaufenen Generalmajor wiederhaben, den Anhänger Antonín Novotnýs. Saat von Luzerne und Klee.
    Die Zeit bei den Paepckes in Pommern dauerte lange für das Kind von Cresspahl, mehr als ein halbes Jahr; doch nicht zu lange.
    Es gab solche Abende wie den Ende Mai 1939, wenn die Erdbeeren reif sind und Saft im Zucker lassen. Sie wurden mit silbernen Gabeln gegessen, am Tisch im Garten, und Hilde häufte der Gesine immer neue Haufen auf den Teller. Das Kind aß so andächtig, ihm ging erst zum Schluß auf, daß alle ihm zugesehen hatten, hilflos von stillem Lachen, ohne Neid. Da glaubte das Kind sich längst nicht mehr beobachtet, verdächtigt, bloßgestellt. Sie konnte mitlachen.
    Bei Paepckes hatte ein Kind keine Pflichten, keine Beschwernis. Wenn Gesine und Alexandra sich anboten für einen Gang zum Kaufmann, gab Hilde sich ein grüblerisches Aussehen und war imstande, abzulehnen, wenn sie erst noch ein neues Spiel für die Kinder gefunden hatte. - Darf ich mal die Bratkartoffeln umwenden? fragte Gesine. Gesine hatte viel Hochdeutsch gelernt. - Ja. Du wendest jetzt die Bratkartoffeln um: sagte Hilde schnippisch, in beleidigtem Ton, der ungeheure Bestrafungen verhieß. Lange hielt sie es nicht aus, dann lachte sie doch. Aber lieber war ihr, daß ein Kind nicht erst in die Nähe des Herdes kam. Kann ein Kind sich doch verbrennen.
    Mit ihrem Alexander hatte Hilde es, so habe ich es nicht wieder gesehen. Alexander kam nach Hause und hängte seinen Uniformrock weg; Hilde stellte sich neben ihm auf und faßte ihn in den Nacken. - Es geht dir nicht gut! sagte sie anklagend, und Alexander schüttelte sich wie nach einer bitteren Medizin. - Wenn wi di nich harrn un de lütten Tüften: sagte er. Hilde sah von weitem, an welchen Abenden er nicht einmal mit Worten angehalten werden wollte. Dann kümmerte Hilde sich um

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