Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
untergebracht. Während des Krieges wurde in Cresspahls Haus oft umgezogen. Tamms war am Ende eines Arbeitstages, er nahm einen Stuhl bei Cresspahl an, nachdem die Franzosen sich empfohlen hatten. Monsieur le Maire schimpfte nicht auf die Engländer. Er sprach von Deutschen (nicht: »Volksgenossen«), die in Lübeck Ruinen plünderten oder Lebensmittel zu überhöhten Preisen verkauften. Er sprach von den Todesurteilen in einem mißmutig einverstandenen Ton. Tamms sagte: Es ist der Krieg.
Am 31. März, Dienstag, kam der Lübecker General-Anzeiger wieder bis nach Jerichow, mit drei Bildern von der Zerstörung der Stadt, der Hauptüberschrift »Überstürzte Sicherungsversuche der U. S. A.« und der anderen, der »Anklage gegen die britischen Kulturschänder«.
Am 2. April gab es die Zeitung nicht mehr; der Verlag Charles Coleman war nun mit dem N. S. D. A. P.-Verlag Wullenwever zusammengelegt, den die Nazis den Sozialdemokraten gestohlen hatten. »Lübecker Zeitung« hieß es nun, und sollte aus Siegeszuversicht siebenmal in der Woche erscheinen.
Fahrkarten nach Lübeck gab es nur gegen Vorlage einer polizeilichen, behördlichen und parteiamtlichen Bescheinigung, und wer keine Rückfahrkarte kaufte, konnte leicht in der Stadt festgehalten werden. Cresspahl war angewiesen auf die Nachrichten der Zeitung. Das Kaufmannsviertel unterhalb der Marienkirche war fast vollständig zerstört. Die Türme der Marienkirche standen noch, ausgebrannt. Sankt Petri war eine Ruine. Zwei Drittel der Innenstadt waren durch Flächenbrände vernichtet. Am Dienstagmorgen waren die Ausgebombten in Jerichow angekommen. Louise Papenbrock konnte nicht begreifen, daß sie die Leute nicht zum Arbeiten bringen konnte, nicht einmal zum Reden. Es war an ihr, für die Sauberkeit der Kinder, für die Zubereitung des Essens zu sorgen, sie genoß die eigene Geschäftigkeit und das Umherlaufen im Haus; sie tat es auf eine fromme, barmende Art, und es war nicht leicht, ihr dankbar zu sein.
Am 5. April predigte Wallschläger in der fast in allen Bänken besetzten Kirche über die Schändung des Palmsonntags durch das gewissenlose, heidnische, dem Antichrist verschworene Volk der Engländer.
Am 5. April war die erste Anzeige von einem Massengrab in der Lübecker Zeitung. Cresspahl achtete bei den privaten darauf, wie die Überlebenden sich und den Lesern den Angriff erklärten:
Noch unfaßbar für uns verunglückte …
Durch den völkerrechtswidrigen Britenüberfall …
Ein unabänderliches Schicksal entriß uns …
In der Unglücksnacht vom 28./29. März wollte es das Schicksal …
Durch den ruchlosen Britenangriff …
Bei dem heimtückischen feindlichen Angriff verlor auch ich …
Durch Feindeinwirkung …
Durch ein tragisches Geschick …
Auf dem Flugplatz sammelte Cresspahl:
Daß die Fliegerabwehr keinen einzigen Abschuß erzielt hatte. Zu der Wut, die immer neu einschwärmenden Bomberwellen hilflos beobachten zu müssen, kam bei den Mannschaften von Jerichow Nord noch der Ärger darüber, daß die Lübecker Zeitung von zwölf verlorenen Maschinen der Briten schrieb, von einer gefangenen Besatzung wußte und die Stümper in Lübeck als Helden bezeichnete.
Daß Lübeck selber schuld sei. Lübeck habe die Eingemeindung in Preußen von 1937 nicht verwinden können und der Reichsregierung noch in den Luftschutzmaßnahmen eine Spitze bieten wollen. Das bei einer eng bebauten Altstadt, die unter hölzernen Dachstühlen gesessen hatte. Eine nicht ausgebildete Bevölkerung sei weggelaufen und habe die Ausbreitung der Brände erst ermöglicht. Unter den Offizieren weiterhin Empörung über den Propagandaminister Goebbels, dessen Brüllerei über Kulturschändung die Bevölkerung nicht auf die kommenden Angriffe vorbereite.
Aus Rostock schrieb Aggie Brüshaver von Oberschülern, die neidisch waren, daß Lübeck auch diesmal als erste in der Reihe stand, nicht Rostock.
Am 7. April meldete die Lübecker Zeitung 280 Tote als amtlich festgestellt. Am 15. April wurden 295 Todesopfer gemeldet.
Daran warst du schuld, Cresspahl.
Ich war auch an Coventry schuld.
Du hast es ausgehalten?
Über Coventry sind sie am 14. November 1940 hergefallen, die Deutschen. 450 Bomber. Da war auch eine Kathedrale. Vom 19. bis zum 23. November 1940 sind sie dreimal über Birmingham gewesen, über 800 Menschen haben sie da totgebombt.
Rechnest du das auf?
Nein, Gesine. Nur, die Deutschen haben angefangen. Sie haben ein Wort daraus gemacht, »coventrieren«.
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