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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Was sie selbst tun, bei anderen ist es völkerrechtswidrig.
    Du mochtest die Deutschen nicht mehr.
    Die nicht.
    Und nicht die Lübecker.
    Gesine, denk an Rostock, denk an Wismar. Lübeck hat danach ruhig schlafen können jede Nacht. Das Rote Kreuz hat dahin seine Paketumschlagstelle gesetzt, und keine Bombe fiel da mehr.
    Sie haben sich bedankt, Cresspahl.
    Sie haben wieder einmal eine von ihren Ehrenbürgerschaften verliehen, diesmal an den Präsidenten des Roten Kreuzes. Was sie da gefeiert haben, es mag die anderen Städte nicht gefreut haben.
    Und daß Churchill hinging zum Massengrab von Birmingham, und Hitler nicht zu dem in Lübeck.
    Das war Churchills gute Pflicht, Gesine.
    Und wenn Tamms dir nun doch Flüchtlinge aus Lübeck ins Haus gesetzt hätte?
    Gesine, unser Haus war unter dem selben Himmel wie Lübeck.
    Und wenn die Flüchtlinge nun Kinder in dem Feuer verloren hätten, oder eine Frau einen Mann?
    Ich hatte schon eine Frau verloren, Gesine.
    Nun rechnest du doch auf.
    Nein, Gesine. Ich war jetzt weiter. Da, wo kein Vergleichen mehr war, kein Abzählen. Damals harr Kein ein mi vestann, un du hüt nich.
    Doch Cresspahl.
    Låt man, Gesine. Dat Lœgn is nu vöebi. Brauchst nicht mehr lügen, Gesine.

16. März, 1968 Sonnabend
    ist der dritte Sonnabend im Monat, und die Gräfin Seydlitz hält ihr Haus offen für Gesellschaft.
    Bekannt geworden sind wir mit Mrs. Albert Seydlitz als mit einer alten Frau, die die Tauben im Riverside Park an einer Stelle füttert, an der die Stadt vermittels einer zierlichen Tafel feststellt, dies sei verboten. Es war vor sechs Jahren gegenüber unserem Haus, und Marie sah ihr so verwundert zu, daß die Frau ein Gespräch mit ihr anfing. Wer aber die Gräfin Seydlitz ist, wissen wir nicht. Sie ist eine alte Dame, im Gesicht ausgemergelt wie von achtzig Jahren, mit einem weißen Studentenscheitel nach einer Mode von vor sechzig Jahren, seit vierzig Jahren in New York, und Leute um die dreißig nennt sie Kind. Sie hat nicht gräfliche Manieren, eher achtlose, wie jemand, der sie hat erfinden müssen. Sie war einmal eine Deutsche, sie kennt sich befremdlich aus in Schwerin-Vorwerk, und sie könnte wohl da zur Welt gekommen sein, nicht aber am schweriner Jungfernstieg. Eisgraue Augen hat sie, schmale Lippen, wie ein Mann. Von einem Grafen Seydlitz ist nichts bekannt. Manche nennen sie eine geborene Emma Borsfeld, andere sagen ihr als Mädchennamen Erna Bloemsdorf nach. Diese alte Dame erklärte Marie, daß die Gesetze der Stadt nicht für jeden gelten, und nachdem wir mehrmals streng Belehrendes ohne Gegenwehr von ihr angehört haben, gilt für uns die Einladung zu jedem dritten Sonnabend im Monat (außer im Sommer, den verbringt sie in Cannes).
    Das Haus der Gräfin Seydlitz sitzt auf dem Dach eines Hauses am Riverside Park, in der Höhe der achtziger Straßen. Es hat zwei Stockwerke, die um einen Saal mit Oberlicht gebaut sind, mit einer Terrasse nach Westen, die einen ausführlichen Blick auf New Jerseys Hochbauten erlaubt. Wer immer sie mit dem Adelstitel über die Enttäuschungen in der Ehe tröstete, er hinterließ ihr Geld obendrein, und es ist lange her. Die Möbel sind hundert Jahre alt, in Mecklenburg für eine vermögende Familie gebaut, Empire und Biedermeier, hochpolierte Stücke, in kargen Streifenmustern bezogen, und für die Gräfin Seydlitz arbeiten Hausmädchen, die von keiner Party Aschespuren, Glasringe, Alkoholflecke übriglassen. Hier werden Studenten wie Professoren der schöngeistigen Fakultäten empfangen, Kunsthändler, Kommunisten, Angestellte des diplomatischen Dienstes, die reichsdeutsche Emigration, auch von den Kennedys sollen Abgesandte gekommen sein. Juden, zwar eingeladen, sind eine Minorität geblieben, halten sich nicht, vermeiden das Wiederkommen. Heute ist es der vierte Besuch Mrs. Cresspahls. Unnachsichtig wird sie begrüßt als Kind von der Gräfin Seydlitz, die für diesen Abend ein knöchellanges Kleid mit Zigeunerfransen angelegt hat und bunte Holzketten lang um den mageren Hals trägt, ein Blumenmädchen inmitten sorgfältiger Kostüme und förmlichen Schwarzweißes. Um einundzwanzig Uhr ist das Parkett dicht bestanden, und vom nachtdunklen Glas des Oberlichts fällt Sprechgeräusch zurück wie schwere Brandung. - Sie kennen ja jeden: sagt Mrs. Albert Seydlitz, und wie üblich kennt die Cresspahl kaum zwei der Gäste, den einen vom Sehen.
     
    – Zu dumme Sache, die Entlassung von Georgie Brown. Was sollen wir jetzt noch in

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