Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nach Mecklenburg. Hier war er nicht ein stettiner Eckenpisser. Paepcke war mit weißen Hosen angetan, und auf dem Kopf hatte er einen weißen Hut. Er hielt das Kind Gesine für getröstet, weil er sich mit einem Geschenk bei ihr entschuldigt hatte, aber das Taschenmesser von Alexander glich bis auf eine kleine Schramme dem, das sie schon hatte.
Paepcke fragte nach Jerichow, nach Methfessel, nach Gesines Französisch, nach Aggie Brüshaver. Da waren doch auch Kinder mit so wohligen Namensanfängen: Martin, Matthias und Marlene Dietrich. Gesine sagte: Die sind doch tot.
Das verstand Alexander nicht. Wie konnten denn so kleine Kinder auf einmal tot sein!
Sie hatten in Rostock gewohnt, in der Straße An der Jakobikirche. Am 25. April, als die Royal Air Force nach Rostock kam, hatte Aggie Nachtdienst in der Klinik, und ihre Kinder waren allein zu Hause, als sie verbrannten.
Paepcke ließ sich etwas geniert versprechen, daß Gesine es seinen Kindern nicht erzählen werde. Sie begriff ihn nicht. Die hatten Marlene doch gar nicht gekannt.
Der Dorfweg war schattig. Wenn Licht durch Hofeinfahrten schlug, war es weiß. Die Häuser waren durch hohe Knicks gegen den Wind geschützt. Als die beiden Dorfjungen mit ihren Schiebkarren vor einem Loch in dem dichten Gebüsch anhielten, erkannte Gesine das Haus wieder. Es war ein langer Ziegelkaten unter einem Rohrdach, die Westwand weiß und dann gelb überstrichen. Im Dach war ein Fledermausfenster (nicht zwei). Es ging so tief hinein von dem Knick, auf den Fußboden tiefer als die Schwelle; man fühlte sich in das Haus hineinrutschen.
Der Garten war ganz wild geworden. Sorgfältig angelegt, mit einer Terrasse für Blumen und einer niedrigeren für Gemüse, war er nun zugewachsen mit Gras, Unkraut, überlebenden Blumen, ausgeschlagenen Büschen, die ihn dicht umstanden. Zum Bodden hin war eine Pforte, die auf einen wieder umwachsenen Rasenplatz führte, und der Rundlauf war noch heil. Wenn drei Kinder sich an die Seile hingen und zu laufen anfingen, konnten sie bald hoch über den Büschen im Kreis fliegen. Nun fingen die Ferien auf die richtige Art an, denn alle kamen sicher ab, keins stieß gegen die eiserne Stange.
Die Zimmer hatten Namen. Oben, im Boddenzimmer, schliefen Hilde und Alexander. Das Fürstenzimmer war Domäne des Großonkels, blieb abgeschlossen. Die Kinder waren im »Atteljé« untergebracht. Im Aufwachen war ein regelmäßiges, dumpfes Geräusch zu hören. Das kam von den Küstenbatterien, die auf dem Hohen Ufer zur Übung die See beschossen. Durch das Haus drang Alexanders Stimme. Er fluchte auf das Militär, das schon wieder hier war wie der Swinegel.
Das Haus hatte ein Großonkel Alexanders schon um 1902 gekauft, von einem Maler, der an den Katen ein Atelier angebaut hatte. Eine Kachelküche im Keller hatte sein müssen, auch ein Speiseaufzug, für die Küche eine Pumpe. Am liebsten aber holten die Paepckes ihr Wasser mit einem Strick und Eimer aus dem Brunnen auf dem Hof. So klares Wasser habe ich nie wieder gesehen.
Vom Ostzimmer oben war tief hinunterzusehen auf den morgenweißen Bodden, die Boddenwiesen, die lange Wochen unter Wasser standen. Das Wasser ging bis an die Knöchel. Darin zu gehen war angenehm, wegen des platschenden Gefühls unter den Sohlen, und nicht geheuer, weil es so tat wie das Moor in Büchern. Oft lagen vor dem dünnen Horizont Zeesenboote still, ohne die braunen Segel nach der Nachtarbeit.
Zum Westen hin, wo die See war, stieg das Land hoch auf. Noch heute, auf einem steilen Weg, erwarte ich die Ostsee, die das Kind damals unverhofft von oben gesehen hat.
Westwind, wie meist, schlug uns entgegen. Links des Weges lagen die Nagelschen Felder; auf der rechten Seite stand ein einziges Haus, dick verpackt gegen die See mit dornigem Gestrüpp. Dies Haus hatte eine Sonnenuhr. Weil der Schafbock an diesem ersten Morgen verschlafen hatte, oder anderswo zu tun, kamen wir unangefochten bis zum Rand der Küste und kletterten sie hinunter. Dabei brach Boden los. Hilde lief schon lange hinter uns her, wir hatten sie wegen des landein stehenden Windes nicht rufen hören. Wir wurden streng vermahnt, einmal wegen Hildes Angst, zum anderen, weil wir das Hohe Ufer beschädigt hatten. - Dumm wie ein Badegast! wurde ein Wort dieses Sommers, und ist lange geblieben. Die Schwalben höhlten das ohnehin bröcklige Ufer schon genug aus.
Paepcke war entschlossen zu Ferien. Keine Zeitungen. Nichts da, Radio! Weit schwamm er hinaus, und wenn er angenehm
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