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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Cresspahlschen »Extrawürsten« in so ehrlich gefühlter Wut, daß dem Kind augenblicklich eine fette, leicht angebratene Wurst im Gehirn erschien. Dabei kann man Stoffregen nicht zuhören. Vielleicht sieht man da aus, als schmecke man etwas Köstliches nach. Betragen (in rührseligem Zorn): Zwei.
    Die Disziplin, die Gefeller einführte, war einheitlich und vorhersehbar. Im Frühjahr 1943 zeigte ein Bauer einen Jungen an, weil er Pferde scheu gemacht haben sollte. Gefeller nahm sich die Mühe, Stoffregens Unterricht zu unterbrechen. Er ließ den Jungen vortreten, einen vielfachen Sitzenbleiber, der größer war als die anderen und Angst hatte vor der Schule. Er versuchte sich gegen die Strafrede zu wehren. Dem Bauern waren die Pferde wohl eher durchgegangen, weil der Junge seinem Gespann entgegengelaufen war; die Anklage lautete aber, er habe die Pferde mit Brennesseln im Ohr gekitzelt. Wegen des Leugnens mußte der Junge seine Hosen herunterlassen, vor allen Kindern dastehen in einer länglichen, vom Bauern abgelegten Unterhose. Dann nahm Gefeller den Jungen an einer Hand und schlug mit dem Stock in der anderen auf ihn ein, in einem fort brüllend von Verbrechen gegen die Volkswirtschaft und Zuchthausstrafe, und weil der Junge kräftig geworden war von Feldarbeit, konnte er sich lebhaft bewegen und zog Gefeller mit dem Stock im Kreis um sich herum, jammernd, als täten die Schläge ihm weh. Gesine Cresspahl wußte genau, daß sie etwas Gefährliches vorhatte, aber sie konnte es sich nicht versagen, und in der folgenden Pause auf dem Schulhof spuckte sie dem Rektor vor die Füße. So sehr verließ sie sich auf den Schutz von Cresspahl. Betragen: Vier.
    Nachdem sie dies alles gelernt hatte, schickte Cresspahl sie auf das Lyzeum nach Gneez. Sie war einverstanden, jeden Tag allein und zweimal mit der Eisenbahn zu fahren, wenn sie nur nicht in Jerichow lernen mußte.
    Nach dem Willen von Gefeller und Stoffregen hätte sie mit dieser Note in Betragen in eine Sonderschule getan werden sollen; am besten gleich ins Rauhe Haus in Hamburg. Herr Dr. Kliefoth aber, Träger hoher und höchster Auszeichnungen, promoviert über das französische Wort aller und ein Fürst im Reiche des Schulrats von Gneez, hatte dies Kind artig geschworen.

22. März, 1968 Freitag
    » DIE ARMEE GIBT DER POLIZEI NACHHILFEUNTERRICHT ÜBER AUFSTÄNDE
    Von Homer Bigart, Spezialkorrespondent der New York Times
    Fort Gordon, Georgia, den 20. März
    Auf einer mit Kiefern bestandenen Kuppe versammelten sich gestern etwa 60 Angehörige der städtischen und staatlichen Polizei sowie Offziere der Nationalgarde, um die Erprobung nicht tödlicher Kampfstoffe zu beobachten, die in diesem Sommer bei der Zerstreuung aufständischen Pöbels zur Anwendung kommen können.
    Es war für die Jahreszeit zu warm, ein träger, dunstiger Georgia-Tag, der eher zu Frühjahrsmüdigkeit als zu aufrührerischen Plänen einlud.
    Wanderdrosseln sangen, es wurden Kaffee und Keks serviert, und die Standortkapelle spielte ›Die Sterne und die Streifen immerdar‹, als die sechste Klasse des Orientierungslehrgangs für Zivilen Ungehorsam aus einem Armeebus kletterte, um einen zwanzigstündigen Kursus in der Anatomie eines Aufstands zu beginnen.
    Dies war der Schauplatz einer wöchentlichen Übung an der Armeeschule für Aufstandsbekämpfung, einer Institution, die vor einigen Monaten eilig entworfen wurde und die aus den Aufständen von Detroit und Newark und anderen Rassenunruhen des vergangenen Sommers die unbarmherzigen Lehren ziehen soll.
    Handbuch der Armee in neuer Auflage
    Jede Woche seit dem frühen Februar schließt eine neue Klasse aus Polizeioffizieren, Nationalgardisten und gelegentlich Agenten des Geheimdienstes oder des Bundesnachrichtendienstes den Lehrgang ab, der unter der Leitung der Militärpolizeischule der Armee steht …
    Todernst saß die gestrige Klasse auf einer überdachten Tribüne und wartete auf die Vorführung. Vor den Zuschauern, einen sanften, sandigen Abhang hinunter, waren in Abständen von 50, 100 und 150 Yards Gruppen schwarzer Silhouetten aufgestellt, die Pöbel darstellten.
    Dieser ›Pöbel‹ sollte angegriffen werden mit Tränengas, von Fußtruppen geworfen oder aus dem Hubschrauber versprüht.
    Zuerst sahen die Angehörigen der Klasse eine Korporalschaft Militärpolizei den nächsten Pöbelhaufen unter einem schützenden Rauchvorhang angehen. Die Korporalschaft, eine grausige Erscheinung mit ihren Gasmasken, kam plötzlich aus dem Rauch

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