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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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ganz zugehängt von Bedenken. Es war immer noch die weiche Linie der Augenhöhle von Stirn zu Wangenknochen, und wer sie so sah in der Polsterklasse, womöglich mit einem verschwiegenen Lächeln beschäftigt, zog des öfteren die Abteiltür auf und redete sie an als Gnädige Frau, bevor ihm aufging, daß die junge Frau nicht so freundlich gestimmt war wie sie aussah, und daß ihr Lächeln eher nicht ganz geheuer war. Dann zog Lisbeth den Mantel um sich zusammen, machte sich steif, wandte das Gesicht gegen das Fenster, nur daß Niemand ihr mit Warnings hundertzwanzig Tagen Gefängnis kommen konnte.
    Das wäre ihr nicht einmal auf der Strecke von Gneez nach Jerichow passiert, wo kein Zug eine erste Abteilklasse führte. Denn in Jerichow hieß es ganz anders. Uns’ Lisbeth. Uns’ Lisbeth hatte sich akkurat gehalten. Uns’ Lisbeth war doch kein Mann; Meineid, das war was für Männer. Was konnte Lisbeth für solch erfundenen Bruder. Wut ging da gegen Warning, einmal weil er den Verstand nicht aufgebracht hatte, in der Eisenbahn das Maul zu halten, zum anderen, weil er Lisbeth in solche Klemme gebracht hatte. Dabei wurde weiterhin durchgenommen, daß Warning einer von denen sei, die das Kinn auf den Forkenstiel stützen, und neben ihnen brüllt die Kuh, und daß hinter seiner freundlichen, allerdings genießbaren Nölerei doch kein rechter Druck und Zug stecke. Seiner Frau wurde mit Arbeit geholfen, auch mit Geld für gar nicht geleistete; er selbst würde eine andere Rückkehr nach Jerichow erleben, als er sich in Dreibergen bei Bützow ausdachte. Und man sehe sich Hagemeister an. Der hatte am Ende nur hören wollen, daß Griem mittlerweile ein Gewicht hatte wie eine Schlachtsau, oder dat de Zylinder n finen ståtschen Haut is, œwe wecke ein den’n nich an is, den’n lett he nich. Macht Warning das Maul auf und redet vom Altertum. Und Hagemeister sagte gern und wieder in seiner schläfrigen Art, aber dann begeistert: Cresspahl sin Fru hett mi fix ruträtn. Lisbeth Cresspahl het mi ruträtn.
    Soweit waren sie nun in Jerichow. Lisbeth galt nicht mehr als die Tochter Papenbrocks, sie war jetzt Cresspahl sin Lisbeth.
    Sie sollte ja krank sein. Sie war ja gar nicht mehr recht in Sicht. Um so mehr war ihr anzurechnen, daß sie einem leibhaftigen Landgerichtsdirektor ins Gesicht gesagt hatte, er befasse sich mit dummem Zeug. Nichts als die Wahrheit. Das hat sie gesagt: Dumm Tüch. Mach du das nach.
    Davon erfuhr sie nichts; und hätte es nicht brauchen können.
     
    – Und nun die Geschichte mit der Regentonne: sagt Marie.
    – Was für eine Regentonne? Davon weißt du nichts.
    – Davon weiß ich, daß James Shuldiner vorvorgestern im Mediterranean Swimming Club war und zu mir sagte: Dich läßt deine Mutter einmal nicht in die Regentonne fallen.
    – Nein.
    – Fang an, Gesine.
    – Das war ohnehin im Sommer 37, und wir haben es längst verpaßt.
    – What is a water butt, anyway?
    – Annie hat sicher eine.
    – Annie ist nicht da.
    – Eine Regentonne, Marie –
    – Ja.
    – Man hat sie meistens auf dem Land, am besten frei stehend, aber so, daß nicht Blätter oder Blütenstaub hineinwehen können. Die Tonne soll das Regenwasser sammeln, weil es das reinste ist, das in der Natur vorkommt. Es enthält zwar Stickstoff, Kohlensäure, salpetrigsaures Ammoniak und was es sonst aus der Atmosphäre bezieht; nicht aber Kalziumkarbonat und die Salze, die die Erde mitschickt. Es ist ja nur verdichteter Wasserdampf. Fühlt sich weich an, heißt deswegen so. Am reinsten ist der Landregen. Wir hatten mehr Ammoniak, weil wir von der Küste zerstäubtes Salzwasser dazubekamen. Ammoniak erhöht die Weichheit des Wassers. Es schäumt dann besser. Zum Waschen, verstehst du. Ist die Tonne aus Holz, wird das aufgefangene Wasser leicht bräunlich, weil das Ammoniak organische Substanzen aufnimmt. Da hast du dein water butt.
    – Du drückst dich vor der Geschichte mehr als vor Robert Papenbrock.
    – Du wirst wünschen, sie nicht zu wissen.
    – Manchmal behandelst du mich, als wär ich nicht zehn Jahre. Zehneinhalb.
    – Cresspahl hatte eine Regentonne neben der Scheune aufgestellt. Wenn es auch von da weit zu tragen war, reiner konnte er es nicht vom Himmel holen. Überhaupt war das Grundstück bis 1938 an allen Stellen richtig versehen und gehalten, als sollte es in einem Lehrbuch abgeschildert werden. Da war keine Krampe lange locker, und das Brunnenwasser lief nicht in die Erde zurück, sondern in einen hölzernen Bottich, in dem

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