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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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war es eben vermauert; er fühlte sich geradezu beobachtet. Dora Semig schrieb von Rehen im Schnee, von Schneegipfeln, von Bodenbeschaffenheit und Alpenbächen, die »Kies und Rollkiesel« ausschleuderten, von Einkaufsfahrten nach Wien! Rollkiesel. Und der Nichtarier überließ es seiner Frau, die Grüße von ihm zu schreiben, so daß Jansen den Cresspahls einen jüdischen Umgang nicht anzulasten hatte. Der Brief, auf den er vom 12. März 1938 an wartete, blieb aus.
    Der Brief trug nicht die ausländische Briefmarke, auf die Knewer zu achten hatte, sondern eine großdeutsche unter einem Stempel aus Pirna mit dem verjährten Zusatz »deine Stimme dem Führer«; womöglich aber hatte Knewer dieses Mal absichtlich nicht aufgepaßt, denn die Absenderin hatte sich als Dora Geb. Köster ausgegeben, wohnhaft in der Ad. Hitlerstr. in Radebeul. Diesen Brief machte Lisbeth nicht auf, als er kam, sondern ließ ihn für Cresspahl liegen. Nicht sie, Cresspahl sollte ihn vorlesen, obwohl er an sie gerichtet war, nicht mehr an beide.
    Es war also den Semigs nur in den ersten drei Wochen freundlich gegangen beim Grafen Naglinsky. Dann hatte Dora sich nicht mehr ins Dorf getraut, und zum Spazierengehen nur in die Forsten, die Beatus für Fremde gesperrt hatte. Im Dorf hatte Arthur nur zweimal Arbeit bekommen, dann war er erkannt als Jude, und seine Frau auch. »Wie es ja ist.« Sie war angespuckt worden. »In Österreich riechen sie es.« Naglinsky hatte sich unwissend verhalten, und die Abende mit Grammofonmusik und Gesprächen über Leute wie Galsworthy seien unerträglich geworden. In der ersten Märzwoche gab Arthur die Stellung auf, die keine gewesen war, und Naglinsky in seiner Erleichterung zahlte ihnen das Geld aus, obwohl er den Gegenwert noch gar nicht in Deutschland abgeholt hatte (bei »Raminsky«, vielleicht bei Baron von Rammin; das war nur zu raten). In Wien hatten sie fast zu viel Zeit verloren, weil »mein Mann« sich nicht für Frankreich entscheiden konnte und über die Zollbeamten an der schweizer Grenze etwas gefährliche Nachrichten umliefen. Am 10. März habe sie ihn endlich nach Preßburg mitbekommen. Arthur habe bis zuletzt auf die österreichische Volksabstimmung vertraut, und auf den Vertrag von Saint-Germain. Die Tschechen hatten sie zwar ins Land gelassen, aber »auf eine österreichische Weise«. Alles, was aus Wien erzählt werde, sei wahr: die Begeisterung über den Überfall, die Plünderung jüdischer Geschäfte. Von den Juden, die mit Zahnbürsten die Gehsteige putzen mußten, gebe es ja Fotos. Prag sei als Stadt vernünftiger als Wien. Dora dürfe für Reiche unter den Auswanderern Flickschneiderei machen, und Arthur sei als Pfleger in einer Tierklinik untergekommen. »Hilfe brauchen wir nicht.« Nur mit einer Anschrift hapere es; immer wieder gingen ihnen Hotelzimmer verloren, vielleicht weil »wir Juden sind«, vielleicht, weil sie sparen mußten. Arthur wolle nicht Tschechisch lernen. Der Brief war Ende März datiert, und nach Jerichow hatte er mehr als vier Wochen gebraucht.
    Lisbeth sprach von der Schuld, die Dora Semig ihr auflegen wolle. Cresspahl besprach sich mit Kollmorgen, aber auch mit vier Augen konnten sie in dem Brief eine versteckte Adresse nicht finden.
    Die Kösters in Schwerin, beide hoch in den achtziger Jahren, was immer in dem Brief an sie stand, hatten sich mit Schlafmitteln vergiftet.
    Sie wurden heimlich von der Polizei verbrannt, und andere hatten nicht zusehen dürfen. In Jerichow wurde gesagt, es seien zwei sehr kleine Särge gewesen. Geheimrat Köster hatte in früheren Jahren Ferien verbracht an der See bei Jerichow.

29. Januar, 1968 Montag
    In zehn Monaten sind im 20. Polizeirevier, zwischen der 66. und der 86. Straße auf der Westseite von Manhattan, von den Bewohnern angezeigt worden: 14 Morde, 37 Vergewaltigungen, 552 Raubüberfälle, 447 Körperverletzungen, 2200 Einbrüche, 1875 schwere Diebstähle und 371 Autodiebstähle. Das sind falsche Zahlen. Die Vergewaltigungen, Einbrüche, Körperverletzungen sind eher das Zwei- oder Dreifache davon, weil viele Betroffene die Meldung an die Polizei unterlassen, vielleicht aus Angst, aus Mangel an Vertrauen.
    Hätte ein ausländischer Besucher bei Cresspahl im Mai 1938 bemerken können, daß das Land in der Hand von Verbrechern war?
    Wäre Mr. Smith etwas aufgefallen?
    Wenn Cresspahl sich zurückdachte auf den Werkstatthof mit der Rüster in Richmond, so ging er gewiß nach England und in eine Zeit, in der Lisbeth ihr

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