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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Predigt für den 24. April weiterzuschreiben. Er schlief darüber ein, und als Aggie ihn nach Mitternacht ins Bett holte, hatte er vergessen, was er im Seminar gelernt hatte: der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich; Selbstmord sei Abfall von Gott.
    Hätte Lisbeth erfahren, daß es diesen Zaun gab, sie hätte vielleicht nicht daran gedacht, ihn zu übersteigen.
    Wenn Einer daun deit, wat hei deit,
    Denn kann hei nich mihr daun, as hei deit.

27. Januar, 1968 Sonnabend
    Rüstige Dame, vor der Vollendung des 117. Jahrgangs stehend, wohlsituiert, würdige Erscheinung, sucht …
    Verständnis sucht die New York Times.
    Es ist ihr die ganze Seite 14 wert, obwohl noch so manches Kaufhaus dort hätte zeigen mögen, was es heute noch bis 17 Uhr zu verkaufen hat; die New York Times weiß, was vorgeht, und zeigt uns in einer ihrer Fabrikhallen ein paar von den Leuten, die für sie arbeiten, 29 von ihren 75 Textredakteuren, darunter 2 Frauen, 16 mit Brille, 18 in Hemdsärmeln, 2 oder 3 mit Bart, alle auf ergebene oder aufmunternde Weise höflich, und kein Neger, keine Negerin.
    Sie sehen hier: sagt die New York Times, und nun hören wir ihre rätselhaft biegsame Greisinnenstimme und sehen die strengen Bewegungen des Zeigestocks, mit denen sie auf Gesicht nach Gesicht in den beiden krummen Reihen deutet, auf die arbeitsame Unordnung, auf den Tischen zwischen den Menschen, auf die verrückten Karteikästen in der hinteren linken Ecke, den halb zugestellten Feuerlöscher, das bejahrte Fernsehgerät, die altmodische Schreibmaschine, die Zeitung Statesman in einem großzügigen Abfallkorb:
    Sie sehen hier eine komische Zusammenstellung von Leuten, komisch nicht im erheiternden Sinne des Wortes. Leute, die ihre Nase in alles stecken. Die Fragen stellen und manches Mal einen Reporter in den Wahnsinn treiben. Darum und damit machen sie die New York Times zu der nützlichsten Zeitung, die Sie lesen können.
    Die sind das also. Und nicht nur tragen sie alle einen Schlips, der Knoten sitzt auch genau unter dem Kragenknopf. Die Schulung ist gewissenhaft gewesen, sie hat den Anstand nicht versäumt. Was sind das für Fragen?
    Solche: Ist dieser Name richtig geschrieben? Stimmt diese Zahl? Trifft das Datum zu? Fehlt hier nicht ein Nebensatz zur Erklärung des Faktums? Ist die Bedeutung dieser Feststellung klar. War da nicht noch jemand verwickelt?
    Die New York Times nimmt eben vom besten. Mit solcher Technik und Dramaturgie, welcher Berufszweig kann es da aufnehmen! Und um was für Fragen handelt es sich weiterhin?
    Solche: Diese Leute, die da anmutig oder gequält, bereitwillig oder zusammengesperrt auf den Tischkanten hocken, sie sind des öfteren ein wenig plemplem. Wenn sie alle Tatsachen aussortieren, alle Fragen beantwortet haben wollen. Weil sie nämlich die erheiternde Vorstellung haben, sie seien gar nicht Textredakteure. Sie denken, sie sind wir, die Leser. Sie stellen die Fragen, von denen sie meinen, wir könnten sie haben. Und zwar tun sie das, bevor wir überhaupt daran denken können, so daß sie uns überhaupt nicht in den Sinn kommen können.
    Ob diese gestandenen Herren, die beiden Frauen unter ihnen, wohl mit Freude aufnehmen, daß ihre Arbeitgeberin sie öffentlich als plemplem beschreibt? Daß sie überdies dargestellt werden in einer Verfassung des Geistes, für die das Wort plemplem gewiß nicht mehr ausreicht? Das werden wir hören.
    Solche Fragen: Wenn diese Menschen also alle Antworten haben auf die Fragen, von denen sie sich einbilden, wir könnten sie stellen, und wenn sie sich obendrein noch selber ein paar heimtückische ausgedacht haben, dann … schreiben sie die Überschrift. Dann … Fragen und Antworten, das ist der Lebensinhalt dieser Menschen. Keine Namenszeile, an der sie sich weideten, kein öffentlicher Ruhm, in dem sie sich sonnten. Nur eine innere Genugtuung, die die Schmerzen aus der Eiterbeule besänftigt. Die Genugtuung: wenn wir eine Geschichte in der New York Times gelesen haben, wird all und jede unserer Fragen beantwortet sein.
    Wie die Gräfin Seydlitz sagt: die Tante Times ist sicher, sie kennt uns.
    Ob wir noch Fragen haben: fragt die Times.
    Ja. Warum sie so versteckt, daß die Zwischenfälle im Golf von Tonkin nach den Befunden des Fulbrightschen Untersuchungsausschusses nicht dazu ausreichten, den Krieg in Viet Nam zum heutigen Umfang auszuweiten. Daß die Schiffe der U. S. A. in jenem August 1964 Spionage betrieben und zumindest einmal die

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