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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die Wirtschaft kaum Cresspahl entbehren konnte. Sie sprach so angeregt von dem schwarzen Kleid, das Aggie Brüshaver ihr leihen sollte, und von einem alten Paar Strümpfe, das nur noch zum Umfärben gut war; Cresspahl kam es vorfreudig vor. Dann fand sie in der Drucksache, daß die Kirche an der Feier nicht beteiligt sein sollte, und legte sie neben Cresspahls Tasse. - Ach: sagte sie, als hätte auch dies von vornherein nicht nach ihren Wünschen gehen sollen, Zeitverschwendung obendrein. Aber Cresspahl sah, daß sie enttäuscht war. Sie hatte sich ein Seufzen angewöhnt, das ging ganz hoch, als sei ihr der Atem abgedrückt. Heimlich war er erleichtert. Er hätte ihr nicht deutlich zu sagen gewußt, wer jene verstorbene Anna Niederdahl denn war, er konnte nur raten. Als Absender war Erwin Plath angegeben, der in Lübeck war, nicht in Bad Schwartau.
    – Diese durch und durch verluderten Engländer! sagte er, denn von der londoner Times war berichtet, sie sei scharf aufgetreten gegen die Behauptung, die neu gezogene Nordgrenze der Č. S. R. gehe über das Münchener Abkommen weit hinaus, und zwar zu Gunsten Deutschlands; und Lisbeth sagte, nicht rechthaberisch aber befriedigt: Sühst, Heinrich?
    In der Zeitung, die in den Holzkasten neben dem Herd flog, war auch von zwei Landesverrätern aus Trier und Ratibor die Rede, die in Berlin hingerichtet worden waren. Einer sollte ein »gefährlicher Spion« gewesen sein. Hatte sich einem ausländischen Nachrichtendienst verkauft.
    Dann kam der Sonntag mit Morgendunst und Nebel, mit mäßigen Winden, und am hellen Nachmittag sammelten die Hitlerjungen Geld für das Winterhilfswerk und bekamen von dem alten Papenbrock nicht wie früher ein Fünfmarkstück, sondern einen Groschen, und die Francotruppen bombardierten den Bahnhof Tarragona, und die Rede ging hartnäckig um die unbekannte Tote, die aus dem Preetzer See geborgen worden war; wer mochte das sein, daß sie nicht in die Zeitung kam; und am Montag war sie doch in der Zeitung; sühst, Heinrich?
    Am Dienstagvormittag trug Cresspahl den Kranz durch die Stadtstraße, den der alte Creutz ihm mittelgroß und nicht prächtig hatte binden müssen, damit und in schwarzem Mantel und Anzug wurde er nicht aufgehalten, um so weniger, als an der freien Hand neben ihm seine Gesine ging, ein betrübtes Kind in Holzpantoffeln, das noch auf dem Bahnsteig stand, als der Zug schon längst hinter der Ziegelei war. Jetzt wünschte sich das Kind, es stünde dort an den Schranken, um den Vater noch einmal zu sehen.
    Kümmst du to mi, wenn du trüch büst?
    Un wenn’t nu midden in de Nacht is?
    Brukst mi niks mitbringn. Oewe kümmst?
    Ick kåm, Gesine. Ick kåm.
    Anna Niederdahl war jene alte Frau, in deren Stube Cresspahl vor paar Jahren einen Nachmittag lang hatte warten dürfen. Im Tode sah sie strenger aus, als die gutmütige betuliche Person, die ihn damals beschimpft hatte, als er gehen wollte, auf eine ängstliche, fürsorgliche Art, und weil sie ihn an Berta Cresspahl erinnerte, hatte er sie um die Schultern gefaßt, nicht ganz zu ihrem Ärger. Jetzt lag sie verärgert da, mit hochgedrücktem Kinn, das eigensinnig aussah. Cresspahl ging nicht nach draußen, um auf die anderen zu warten, sondern nahm sich einen Stuhl neben den offenen Sarg.
    Die Trauergesellschaft, die um das Grab versammelt stand, war anders befangen, als der Anlaß es wollte. Die einzige Verwandte schien eine Frau unter den fünf Männern, eine überanstrengte, von der nächtlichen Reise aus Breslau noch mehr erschöpfte Vierzigerin in offenbar geliehenem Schwarz. Cresspahl kannte sie nicht. Von den anderen kannte er nur Erwin Plath. Der Redner, ein pensionierter Schullehrer, der solche Gelegenheiten berufsmäßig versah, versuchte das Leben von Anna Niederdahl zu erzählen. Ein Fischerkind aus Niendorf. Eine Fischersfrau in Niendorf. Der Mann, als Krüppel von der Marine entlassen, der die Frau mit Gärtnerei in Lübeck unterhalten hatte. Ein Sohn auf See geblieben, eine Tochter in Hamburg verschollen, die andere »Verfolgungen des Schicksals« ausgesetzt. Hier nahm die fremde Frau mit einer empörten Bewegung den Kopf hoch, und als der Mietredner den ersten Satz von der Unsterblichkeit hinter sich hatte, trat Erwin Plath einen Schritt vor. Als Lisbeth hatte mitkommen wollen, vielleicht war ihr gelegen an den zwei Minuten, in denen die Gäste schweigend auf den Sarg hinuntersahen. Dann sagte Erwin leichthin, gesprächsweise: Tante Anna. Vegætn ward’t nich. Du

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