Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Verlust, daß die Polen von der Sudetenbeute das Teschener Gebiet und Grenzstreifen in der Slowakei hatten besetzen dürfen, es mußte psychologisch auf die Habenseite geschrieben werden. Mit der Wurst nach der Speckseite. An dieser Stelle sah Cresspahl ihn an. Der andere kam ihm vor wie ein betrunkenes Kind, aber nach Schnaps roch Jansens Atem nicht. Als die Briten am 29. September das Münchener Abkommen unterschrieben, hätten sie sich auf alle Zeiten blamiert (bis auf die Knochen). Cresspahl nickte wieder, mehrmals, aufrichtig, und Jansen begann zu glauben, er könne sich in diesem Menschen getäuscht haben. Daß die Luftwaffe den wieder und wieder in Schutz nahm, es mochte verborgene Gründe haben. Es war am Abend des 1. Oktober, an dem die Hitlertruppen in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, und Jansen verbreitete sich genüßlich über die Beute von 40 000 Quadratkilometern, das waren 4 Millionen Hektar, 400 Millionen Ar! Cresspahl solle das mal ins Englische umrechnen! Die ganze Grenzbefestigung! Ein Drittel aller Betriebe! Hier nannte Jansen seinen Anführer einen Staatsmann von Format, und für Cresspahl war das jemand, mit dem er nicht Vertrag hatte, der ihm die Tasche leerstahl, der nie an seinen Nutzen denken würde und immer an den des Staates, nichts als ein Feind. Und also sagte er, zur freudigen Erholung Friedrich Jansens: Das müsse jeder zugeben, der es vielleicht nicht einmal wolle.
Dann ging er weiter, wandte sich nach ein paar Schritten um und hatte seinen Jansen nun so weit, daß der nicht nur wieder aus seinem Vorgarten herauskam, sondern ihm reinweg nachlief. Cresspahl hatte noch eine weltanschauliche Frage. Zum Gewinn gehörten ja auch Menschen, über fünf Millionen an der Zahl. Jansen sprach von befreitem Grenzvolk und dergleichen, ausdauernd, und war doch unterwegs gewesen zu seinem Katerbier. Cresspahl ließ sich nicht abhalten. Es gebe doch noch andere Länder mit deutschsprechenden Bürgern, Brasilien etwa, oder die Schweiz. Wie die nun großdeutsch werden sollten.
– Die Schweiz: sagte Friedrich Jansen: Die nehmen wir uns auch noch vor!
1. Februar, 1968 Donnerstag
Mrs. Anne Deirdre Curtis, eine junge schlanke Frau, einen Meter fünfundfünfzig groß, wurde gestern gegen vier noch von einer Nachbarin gesehen, als sie mit ihrem 13 Wochen alten Kind vom Einkaufen zurückkam. Als ihr Ehemann, ein 27 Jahre alter Medizinstudent, um halb sechs die Wohnung, 297 Lenox Road in Brooklyn, betrat, fand er seine Frau über das Bett gestreckt, mit Blut bedeckt und nur mit einer Bluse und Büstenhalter bekleidet. An ihrem Hals war das Handtuch, mit dem sie erwürgt worden war. Male an ihren Handgelenken deuten darauf hin, daß sie gefesselt worden war. Um die Leiche herum lag zerbrochenes Glas und eine zerschlagene Uhr. Nach Ansicht der Polizei hat Mrs. Curtis sich gewehrt, bevor sie vergewaltigt und getötet wurde. Das Baby lag unverletzt in seinem Wagen. In dem Kinderwagen war auch die Tüte mit den Einkäufen.
2. Februar, 1968 Freitag Groundhog Day
Der Tag, den der Mecklenburgische Voss un Haas-Kalender Lichtmeß nannte, und dort hieß es: Sonnt sich der Dachs in der Lichtmeßwoche, so geht er auf vier Wochen wieder zu Loche. Hier haben sie den groundhog, ein Waldmurmeltier oder Erdferkel, und wenn er in Punxsutawney oder Quarrysville herauskommt und seinen Schatten sieht und sich erschrickt und zurückkehrt in den Winterschlaf, dauert der Winter noch sechs Wochen an. Sieht er seinen Schatten nicht, ist der Frühling angekündigt; was wir aber haben ist Nebel und gleichmäßiger Regen, und der Türsteher kommt mit einem Baldachin von Schirm auf die West End Avenue.
Genug Neuankömmlinge des Hotels Marseille mögen erschrecken, wenn sie endlich den Lift gewonnen haben und dann mitsamt ihren Koffern nicht nach oben sondern in den Keller gefahren werden, nur weil unter den Passagieren eine Person ist, die der Mann an der Kurbel erst einmal unten absetzen will, von der er obendrein auf recht eingeübte Weise Abschied nimmt. Er nennt sie eine Mrs. Cresspahl, spricht von einem Kind im Wasser, und erst dann schließt er Tür und Scherengitter und beginnt die Reise in die Stockwerke über der Erde.
Vom Schalter des Mediterranean Swimming Club führt ein trockener, mit grünem Filz ausgelegter Gang an prächtig lackierten Bänken vorbei zum »Weiblichen Gebiet«. Die Tür schließt dicht, und hinter ihr überfällt feuchte Luft den Badegast wie eine zweite Haut. Hier ist viel Lärm
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