Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
offen, als unterhielte er sich angelegentlich, aber nicht ärgerlich mit dem Soldaten, der ihm das Gesicht in der Haltung freundlich zukehrt, wenn es auch vom Helm verschattet ist. Der Amerikaner scheint ihn eher zu leiten mit dem Arm, nicht zu zwingen. Das ist nach der Unterschrift ein Offizier der Viet Cong, und er hat eine Pistole bei sich gehabt. Eins.
– Zwei.
– Überschrift: »Die Hinrichtung«. Links steht ein Mann, im Profil von hinten gesehen, in einer offenbar nicht zivilen Weste, die Ärmel aufgekrempelt. Das ist der Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan, der Chef der Polizei in Süd-Viet Nam, und den rechten Arm hält er ausgestreckt mit einem Revolver, eine Handbreit von der Schläfe des Gefangenen. Der Gefangene steht auch noch, aber sein Kopf ist etwas schief zur linken Schulter hingekippt, die Augen halb geschlossen, der Mund aufklappend wie eine Wunde. Sonst sieht der Kopf heil aus. Die Hände auf dem Rücken, gewiß gefesselt. »Das Gesicht zeigt den Einschlag des Geschosses.« Zwei.
– Drei.
– Das Opfer liegt auf der Straße, die nackten Beine sinnlos angewinkelt. Der Brigadegeneral hält mit der linken Hand das Holster am Hosenbund auf, mit der anderen versorgt er die Waffe. Er blickt nicht auf den Toten, sondern vor sich nieder, als wiederhole er sich nun den Vorgang in Gedanken. Im Hintergrund Ladenfronten und unverhofft ein Mann in amerikanischer Uniform, mit Sonnenbrille verkleidet, im Schritt angehalten und leicht umgekehrt, jedoch nicht, als wolle er eingreifen. Der Mann war dem Brigadegeneral ja übergeben worden.
– Ich weiß schon, Gesine.
– Nein. Ich habe nie gesehen, wie ein Mensch erschossen wird. Das zweite Bild zeigt den Augenblick, in dem der Gefangene stirbt.
– Wenn in deiner Erzählung jemand erschossen wird, brauchst du es mir nun nicht mehr zu beschreiben, Gesine.
– Es kann auch anders zugehen, Marie.
– Aber wenn du in deiner Geschichte jemand erschießen läßt, werde ich wissen, woran du dabei denkst, und auch daran denken. Wolltest du das?
– Das auch.
– O. K. Zeigst du mir jetzt noch einmal den Delphinsprung?
– Jetzt zeige ich dir noch einmal den Delphinsprung.
3. Februar, 1968 Sonnabend Tag der South Ferry
– Wie sah Cresspahl aus im September 1938?
– Fünfzig Jahre alt. 1 Meter neunzig Zentimeter groß. (Sechs Fuß zwei Zoll.) Von fern aufrechte Haltung, bei nahem besehen, vorsinkende Schultern; Arbeitsschaden oder Mutlosigkeit. Ein länglicher, noch voller Kopf, steingraue harte Haare, gekräuselt. Der Blick beim stummen Gesicht: so gleichmäßig, daß der Eindruck von Aufmerksamkeit jeden Ausdruck verbergen kann. Beim Reden, beim Arbeiten: auf die Sache gerichtet, streng, prüfend, scharf. Augenfarbe: Helles Blau bis Grau bis Grün. Die Lippen nicht mehr locker vorgewölbt wie Anfang der dreißiger Jahre, eng verschlossen, so daß sie magerer scheinen. Harsche, geknickte Falten zu beiden Mundwinkeln. Der Mundausdruck zeigte nicht Erwartung, nur noch Wachsamkeit, leicht angewidert. Dennoch ahnungslos. Kleidung: In der Regel blaues Maschinistenzeug, in der Werkstatt Holzpantoffeln. Das Alter hieß früher einmal die besten Jahre.
– Gesine, ich meine: Wie er aussah!
4. Februar, 1968 Sonntag
Der Ausschuß des Senators Fulbright hat nun auch noch herausgefunden, daß der Unterwasserorter des Zerstörers Maddox gestört war, bevor das Schiff einen Torpedoangriff meldete und die Regierung den Anlaß für die Ausweitung des Krieges gegen Nord-Viet Nam bekam. In der neuen Offensive sind bisher 376 Amerikaner und 14 997 ihrer Feinde umgekommen; und 4156 Leute sind eingesperrt wegen Verdachts auf Zugehörigkeit zum Viet Cong. Der Soldat, der dem Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan ein Opfer zuführte, sei doch kein Amerikaner gewesen sondern ein Soldat der A. R. V. N. Der Tote ist berühmt, und sein Name nicht bekannt.
Am 15. Oktober 1938, Sonnabend, brachte Herbie Schäning, Jerichows Zusteller, den Cresspahls den Lübecker General-Anzeiger (Lübeckische Anzeigen, Lübecker Neueste Nachrichten & Handels-Zeitung, Heimatblatt für die Hansestadt Lübeck, Schleswig-Holstein und das westliche Mecklenburg), die Nummer 242 im 57. Jahrgang, wochentags zu 15, sonntags zu 20 Pfennigen, im Abonnement durch die Post monatlich 1,90 Mark zuzüglich 36 Pfennig Zustellgebühren; und eine Todesanzeige, abgestempelt in Bad Schwartau.
Lisbeth wäre gern mitgefahren zu jener Beerdigung, obwohl sie am Dienstag sein sollte, mitten in der Arbeitswoche, und
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